Mitten im Land der Täter
Vom UN-Lager zum selbstverwalteten Camp
Bereits in der 1940er Jahren hatten die Alliierten überlegt, wie nach dem Sieg über Deutschland das zu erwartende Problem mit den unzähligen befreiten KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zu lösen sei. Ein erster Schritt dazu war die Gründung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). 1943 hoben 44 Nationen diese Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen aus der Taufe.
Damit war die rechtliche und organisatorische Grundlage für den Aufbau der sogenannten Displaced Persons Camps (dt. Lager für verschleppte, entwurzelte Personen) im Nachkriegsdeutschland geschaffen. Obwohl auch die Sowjetunion zu den Signaturstaaten der UN-Organisation gehörte, verweigerte Moskau der UNRRA jegliche Tätigkeit in der sowjetischen Besatzungszone.
Als Deutschland im Mai 1945 kapitulierte, befanden sich über sieben Millionen Displaced Persons (DPs) aus rund 20 Nationen auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches. Die überwiegende Mehrheit kehrte bis zum Herbst 1945 in ihre Heimatländer zurück. Etwa eine Million Menschen waren gesundheitlich in schlechter Verfassung oder verweigerten aus politischen oder sozialen Gründen die Rückkehr.
Dazu gehörten auch die jüdischen DPs, deren Gemeinden zerstört und deren Angehörige und Freunde ermordet worden waren. Für diese entwurzelten Menschen beschlagnahmten die alliierten Besatzungsmächte alle Gebäude, die sie für geeignet hielten: Sanatorien, Schulen, Kasernen, Hotels, Bauernhöfe und Wohnsiedlungen.
Da anfänglich jedoch alle DPs nach Nationalitäten untergebracht wurden, mussten manche der jüdischen Verfolgten mit ihren früheren Peinigern, wie etwa baltischen oder ukrainischen Nazi-Kollaborateuren, in denselben Baracken zusammenleben. Unter ihnen befanden sich »einige der blutrünstigsten Schergen der SS und der Gestapo«, wie Koppel S. Pinson, Mitarbeiter der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC), mit Entsetzen feststellte. US-Militärrabbiner alarmierten die Öffentlichkeit über diese unhaltbaren Zustände, worauf der amerikanische Präsident Harry S. Truman im Sommer 1945 den Aufbau von eigenen Wohngebieten und Gemeinden für Juden anordnete.
Mitten in Deutschland konnte sich somit eine unabhängige jüdische Gesellschaft entwickeln, mit eigenen Schulen, Zeitungen, Theatern, politischen Parteien und Sportvereinen. Diese Einrichtungen wurden durch die UNRRA beziehungsweise der Nachfolgerin International Refugee Organization mit lebensnotwendigen Gütern versorgt.
An der Spitze der jüdischen Selbstverwaltung stand das »Zentralkomitee der befreiten Juden« mit Sitz in München. Daneben etablierten sich Regionalkomitees in Frankfurt am Main, Bamberg, Regensburg und Stuttgart. Mitten im Land der Täter konnte sich somit eine demokratisch verfasste jüdische Gesellschaft entwickeln.
Der Autor ist Leiter des »Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts« (www.nurinst.org). Zurzeit stellt das Institut ein Internetlexikon über alle in Bayern zwischen 1945 und 1950 bestehenden jüdischen DP-Lager und -Gemeinden zusammen.
www.after-the-shoah.org
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.