Dirk Werner: Liebe Anna. Eine Weihnachtsgeschichte
Die Landschaft, in die ich gehöre, liegt an diesem See. Nicht im Mittelgebirge, in dem ich geboren, nicht am Meer, an dem ich aufgewachsen. Von beidem bin ich längst verabschiedet. Doch in meinem fremden Leben, in dem ich Jahre lebte, war sie der einzige richtige Ort. So wie es für mich nur eine wirkliche Weihnachtsgeschichte gibt, bei der ich lachen musste (und es im Gedanken daran wieder muss) und über der ich melancholisch werde. Sie ist größer, witziger und abenteuerlicher als meine eigenen Kindheitsweihnachten, indes gibt sie nur noch Puderzucker und Schlagsahne auf das, was das Fest für mich vor Jahrzehnten bedeutete. Es war die Zeit im Jahr, wo unsere Familie über Tage bis ins Tiefste friedlich miteinander lebte.
Jeden Donnerstagnachmittag fuhr ich an den See, im Oktober, im November, im Dezember. Jedes Mal war die Düsternis über dem Wasser größer geworden, der See selbst endloser, nicht nur verlassener. Aber ich liebte die Stimmung des Einschlafens der Natur, in der selbst das Gewässer, aus einem Sommer mit Badegeschrei her kommend, in sich selbst zurückkehrte. Jeden Donnerstag, als ich wie aus einer anderen Stadt kam (obwohl doch der See in ihr ufert), war ich hier, um letztlich wieder einen Brief zu schreiben. Und je näher das Weihnachtsfest rückte, desto mehr schien es mir, dass es in dem großen Gasthaus, in das ich dazu ging, nur einen immergleichen Kellner - und mich - gäbe. Das war, noch ehe das »Toulouse« umgebaut, bevor eine leichte Veranda vor das altehrwürdige Antlitz gestellt wurde. Bald nach meinem Eintreten schüttete der Mann im weißen Jackett geschickt aus einem hohen, quaderförmigen Behältnis Kohlen ins Feuerloch. Ich suchte stets schon die Nähe des Kachelofens. Wie eine kleine Winterlandschaft mit weichen Hügeln an den Stellen der Bügelfalten lag die Tischdecke strahlend und schwer. Ich fürchtete mich, mit meinem Kaffee auch nur einen Fleck darauf zu hinterlassen. Ich bin der, der allezeit Flecken hinterlässt. Nach Kaffee und Apfelstrudel schrieb ich an Anna. Meist eineinhalb A4-Seiten. Selten mehr. Nie weniger.
Ob ich in meinen Briefen einmal nach ihr fragte? - Ja, ich glaube.
Ob ich ihr von meinen wahren Gefühlen erzählte? - Nein, ich denke nicht. Es gab auch keinen Anlass, denn der Anblick des Sees, der tiefen Wolken, dann des Schnees, der ins Nichts fiel, hielten mich jedes Mal davon ab. Sie alle drängten in den Brief. Hier draußen, in meiner Vorstellung sogar noch im vorderen Gastraum des »Toulouse« selbst, nahm mich der Wind gefangen, so wie nie in der Stadt, so wie immer, auch zu Weihnachten, in der Kindheit am Meer. Sofort, wenn wir damals nach draußen liefen, zerrte er an uns. Kühl, kräftig. Wie der große Wind in meiner allerliebsten Weihnachtsgeschichte.
Ich schrieb an Anna. Doch vielleicht war das nur der vorgeschobene Grund, um überhaupt hierher zu gehen, oder: um hier zu verschwinden, was dem ersten gleichkommt. Vielleicht war das sogar Teil meines vorweihnachtlichen Rituals in dieser Zeit: Gehen - verschwinden. Eins werden mit dem Draußen und sich selbst. Ich weiß, dass das alles in den Briefen war, die Stimmung, die in den letzten Wochen des Jahres an diesem Ort wuchs, die hier wartete, und die jedes, jedes einschloss. Also auch Anna und mich, meine ich heute, wiewohl es in den geschriebenen Worten selbst wenig um uns beide ging.
*
Anna und Corinn hatte ich Ende der achtziger Jahre auf einem Bahnsteig kenngelernt. Alle drei kamen wir von einem Punkkonzert. Nicht dass ich sie im Saal gesehen hätte, aber der Rausch des Gedränges, der rhythmischen Wut dort, hing uns als die gelöste Stimmung hinterher noch in den Gesichtern. Ich sprach die beiden an. Zu dritt fuhren wir in Corinns Wohnung. Wir redeten und tranken weiter und schliefen dann auf einem ausklappbaren Sofa. Die kleine, sommersprossige Anna lag neben mir - nicht Corinn mit dem krausen Kastanienbraun. Die schlief bald fest ein, und irgendwann begannen Anna, die in der Mitte lag, und ich uns zu berühren. Wir sprachen nichts miteinander, vereinigten uns nicht, trennten uns am nächsten Morgen nach dem Frühstück. Sie schrieb mir Briefe, und ich schrieb ihr zurück, und das war ein noch besserer Beginn. Es war nur gut, dass sie in Rostock lebte. Denn die Briefe an unserer Stelle reisten hin und her.
Wochen später fuhr ich an die Ostsee zu einem Freund. Am Sonntagnachmittag beschloss ich plötzlich, Anna in ihrem Studentenwohnheim zu besuchen. Als ich in Rostock an der Eingangstür des Wohnblocks klingelte, erschien sie, außer Atem und bis unter die Haarwurzeln von Rot übergossen, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen. Auf der Stelle gestand sie, dass sie hier, im Studentenwohnheim, einen Freund hatte. Ich blieb ruhig. Merkwürdigerweise war ich ohne nachzudenken sicher, dass die Briefe viel mehr galten, als das, was ich hier vorfand. Das Geschriebene mehr als das wirkliche Leben? So ungefähr.
*
Vom »Toulouse« aus, also viel später, schrieb ich Anna auch einmal auf einer Serviette. Aus dickem, weichem, stoffähnlichem Papier waren sie ein Trost vor der Dämmerung, die vom See draußen herein kroch. In dem aufgedruckten Jugendstil-Ornament lag etwas wie Würde. Die Berührung schmeichelte meinen Händen, ohne dass es mir bewusst wurde. Nie konnte ich eine zusammen knüllen, mir den Mund damit putzen. Jede nahm ich heimlich mit. Sie waren die Verpackung eines Geschenks, die in ihrer Wirkung stets wiederkehrende Überraschung, mich mehr weihnachtlich stimmend als der übermäßig geputzte Baum, der mich eines Tages in einem hinteren der Gasträume, auf dem Weg zur Toilette, erwartete.
Die Briefe also, deren Bedingung die Entfernung war, und die mehr Nähe schufen als unser körperliches Beisammensein, wenn Anna zu mir kam, schmiedeten uns zusammen. Sie hatte sich von dem anderen getrennt, bald nachdem ich bei ihr in Rostock auftauchte. Meine Zweifel starben sofort, als sie es schrieb: Ihre Briefe kamen fast täglich. Wie auch meine zu ihr. Wenn ich jetzt noch erwähne, dass sie eine junge Lyrikerin war, die ihre Gedichte veröffentlicht hatte und gefördert wurde, dann versteht ihr, welche unzweifelhafte Macht ihre Zeilen ausübten. Ich selbst hatte mir das Fotografieren beigebracht. Als wir ein Liebespaar wurden, lagen meine ersten kleinen Ausstellungen gerade hinter mir. Bei Michel Tournier las ich, dass Gedicht und Lichtbild einander nahe stehen wie Roman und Film.
Aber was ist mit der Kurzgeschichte? Bleibt sie ein Single? - Bei der Weihnachtsgeschichte, von der ich eingangs sprach, ist es so. Sie verband sich niemals in mir mit einem anderen Text, mit keinem Film, keinem Foto. Doch sie mischt ihre Bilder unter die Bilder meiner Kindheit, ist deren Vergrößerung, Verfeinerung, Vertiefung. Weihnachten in 3D. Erst durch sie konnte mein Kindheitsweihnachten dieser unverrückbare Schatz werden.
Ich weiß nicht, wie viele Briefe ich damals, zwei Jahre ehe alles um uns herum brach, von Anna bekam. Ich besitze keinen mehr. Denn es war ein Brief, nein, es waren zwei Briefe, die alles beendeten. Zwei Briefe und ein Telegramm. Da kein einziger mehr existiert, kann ich heute nicht mehr sagen, was es mit diesen letzten beiden wirklich auf sich hatte. In meiner Erinnerung steht in dem einen, dass sie einen jungen Mann gefunden hatte, der ihr Gitarrenunterricht gab - so wie sie es sich lange gewünscht. Ich las von intensiven Proben. Davon, wie glücklich sie das mache. Was war das für ein Glück, fragte ich mich. Was waren das für Proben? - Brennende Eifersucht in mir schon beim ersten Brief. Weder sie noch ich besaßen ein Telefon. Es gelang mir nicht, zu meiner Rostocker Ruhe vor Wochen zurück zu finden. Alle vorherigen Briefe verloren an Gewicht, als der zweite noch einmal bestätigte: eine Art Glück mit einem anderen. Frühere Erfahrungen veränderten plötzlich mich, den Leser, veränderten sie, die Absenderin. Ich konnte mir nicht sagen, was ich mir heute sagen kann - dass sie niemals so unbefangen von dem anderen geschrieben, wenn zwischen ihnen wirklich etwas gewesen wäre. Ich konnte damals nicht anders handeln, als ich es tat. Ich sandte ein Telegramm, in dem ich ihr sagte, dass es aus sei.
Wenn ich im »Toulouse« gegessen, getrunken, das Papier eingesteckt und dann gezahlt hatte, ging ich im Wechsel von Dunkelheit und Laternenlicht an den Buchten des Sees zurück. In der Finsternis war alles noch mehr eins geworden. Am Bahnhof erwartete mich zwischen Schaufenstern ein winziger Weihnachtsmarkt, Bratwurststand und eine hohe Tanne. In ihrem Wipfel mochte der Seewind noch zu spüren sein. So wie ich Annas Schmerz jetzt noch, und meinen eigenen, beim Schreiben erst recht, spüre. Was war mit uns geschehen? Warum das Zerstörende in mir, das mehr war als bloße Eifersucht? Als wir uns Tage nach ihren letzten Briefen und meinem Telegramm trafen, war schon alles verloren. Die Briefe leeres Papier geworden, wir konnten nicht wieder beginnen. Die Schmerzen eines jeden von uns waren zu groß gewesen.
*
Wenn ich darüber nachdenke, so scheint es mir, als wäre ich damals - nur für einen Augenblick - der Unbekannte gewesen, den sie um meinetwegen im Studentenwohnheim verließ. Wie mag er sich gefühlt haben, als sie ihm so plötzlich sagte, dass es aus sei? - So wie ich in dem Augenblick, da ich den Inhalt ihrer letzten Briefe einfach falsch verstand, eher noch: einem bösen Zauber unterzog, weil ich mich durch meine Schuldgefühle für einen Augenblick in ihn verwandelt hatte?
Von meinen Briefen aus dem »Toulouse« schickte ich nicht einen ab. Sie liegen alle in einer zerschlissen Mappe, aber ich weiß nicht genau, wo in meiner Wohnung. Monate, bevor ich sie schrieb, in der Zeit der großen Veränderung, traf ich Anna noch einmal. Wir waren eine Nacht beieinander. Ein Weihnachtsgeschenk wäre, jetzt ein paar ihrer Zeilen von ihr hier zu haben.
Wir sind alle zwischen zwei unvereinbaren Positionen zerrissen, zwischen Romantik und Realismus. Der Romantiker in uns sagt, dass es für jeden Menschen auf der Welt genau einen richtigen Partner gibt. Und der Realist sagt: »Da muss ja nur einer den Falschen nehmen, und dann geht‘s für alle nicht mehr auf.« Und wir alle kennen einen, der einen Falschen hat.
Eckart von Hirschhausen
Aus: »Glauben Sie noch an die Liebe? Unerwartete Antworten von Hannelore Elsner, Eckart von Hirschhausen, Michel Friedman, Sonya Kraus, Franz Müntefering, Roger Willemsen und vielen anderen«. Von Justus Bender und Jan Philipp Burgard, C. Bertelsmann, 288 S., geb., 16,99 €.
Bücher Dirk Werner:
FAUNA FANS FANATIKER«
»SCHLAFAFFENLAND«
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