Wo ist meine Heimat?

Tschechien blickt auf 20 Jahre Eigenständigkeit

  • Jindra Kolar, Prag
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Bilanz von 20 Jahren eigenständiger Republik ist für Tschechien wenig schmeichelhaft: Die inzwischen zehnte Regierung steht vor dem Kollaps, auch wenn verzweifelte Rettungsversuche der Koalition und einiger unabhängiger Abgeordneter sie über die Legislatur retten wollen.

Korruption und Misswirtschaft sind quasi Markenzeichen der politischen Elite Tschechiens. Premier Petr Necas (Bürgerliche Demokraten - ODS) verlor seit Amtsantritt neun seiner 15 Minister, über eine parlamentarische Mehrheit verfügt die Koalition aus ODS, TOP 09 und Liberaldemokraten (LIDEM) nicht mehr, und nach dem Rauswurf von Verteidigungsministerin Karolina Peake hat Juniorpartner LIDEM angekündigt, aus dem Regierungsbündnis auszusteigen. Die Bürger sind der bürgerlichen Regierung überdrüssig. Sozialdemokraten und Kommunisten, deren Herrschaft man mit der »Samtenen Revolution« beendet hatte, verzeichnen wachsenden Zulauf bei den Wahlen.

Wirtschaftlich ist auch Tschechien von der Krise betroffen: Das Wirtschaftswachstum ist von 4,5 Prozent in den Anfangsjahren auf 1,9 Prozent im vergangenen Jahr gesunken, die Arbeitslosigkeit, die 1994 nur 4,3 Prozent betrug, liegt gegenwärtig bei 6,7 Prozent.

Bei den Nachbarn im Südosten wächst das Bruttoinlandsprodukt immerhin noch um 3,3 Prozent. Sie können sich damit innerhalb der EU durchaus sehen lassen, auch wenn die slowakische Arbeitslosigkeit bei 13,5 Prozent liegt.

Mit Aufmerksamkeit beobachten Prag und Bratislava, was sich in der Nachbarschaft entwickelt. »Die Slowaken sind die uns am engsten verbundenen Ausländer«, hört man immer wieder auf die Frage nach dem Verhältnis der beiden Staaten 20 Jahre nach der Trennung. In Prag erzählt man sich den Witz: »Weißt du, was passiert, wenn in der Slowakei ein Kernkraftwerk explodiert? Wir tauschen einfach die Nationalhymnen: Die Slowaken singen ›Kde domov muj‹ (Wo ist meine Heimat?) und die Tschechen ›Nad Tatrou sa blyska‹ (Über der Tatra blitzt es).« Freundlicher Spott, vielleicht mit etwas Sarkasmus gewürzt - denn immer noch glauben viele Tschechen, die Nachbarn lebten in einem Entwicklungsland, während viele Slowaken die Tschechen für überheblich und kleingeistig halten.

Doch die realen Beziehungen zwischen beiden Staaten haben sich in den vergangenen Jahren sehr eng gestaltet. Sie gehören für den jeweils anderen zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern, wobei das deutlich höhere Wachstum in der Slowakischen Republik einen fördernden Einfluss ausübt. Zumal auch nach der Auflösung der Tschechoslowakei viele Bürger im nun jeweiligen Ausland Wohnsitz und Arbeitsplatz behielten. Ohnedies war die Trennung vor zwei Jahrzehnten eher eine Aktion bestimmter Politiker, als eine der Bevölkerung. Seit 1918 die erste Tschechoslowakische Republik ausgerufen wurde, hatten viele Bürger ihren Wohnort gewechselt - von der Moldau an die Donau, aus Košice ins Böhmerland, aus den Steinkohlerevieren Nordmährens zu den Erdölraffinerien bei Bratislava. Viele Ehen wurden zwischen Tschechen und Slowaken geschlossen, in vielen Familien weiß man nicht einmal zu sagen, wo denn die eigentliche Heimat liegen sollte. Und noch heute studieren allein 25 000 slowakische Studenten an tschechischen Hochschulen und Universitäten.

Doch auch die Politiker, die sich seinerzeit so vehement und erregt für die Auflösung des gemeinsamen Staates engagierten, sehen das heute gelassener. Galten Anfang der 1990er Jahre die Aufnahme in internationale Bündnisse wie EU und NATO als Hauptargumente für die Bildung zweier Staaten, so merken Politologen beider Seiten heute an, dass man diese Schritte durchaus auch in einem gemeinsamen Staat vollziehen hätte können. Doch die Positionen des damaligen tschechischen Regierungschefs Vaclav Klaus schlossen eine Fortführung dieses gemeinsamen Staates ebenso aus wie die seines slowakischen Kollegen Vladimir Meciar.

Klaus, inzwischen tschechischer Staatspräsident, räumte kürzlich bei einem Treffen mit seinem slowakischen Amtskollegen Ivan Gasparovic in Prag ein, die Slowaken hätten »den Schritt in die Freiheit besser genutzt«. Bei gleicher Gelegenheit lobte er, dass die staatliche Trennung beispielhaft einvernehmlich und friedlich vonstattengegangen sei. Zur selben Zeit hatten andere Staaten in Europa ihre nationalen Konflikte schließlich militärisch zu lösen versucht. Der EU-Skeptiker Klaus fügte hinzu: Eine Auflösung der Europäischen Union unter gleichem Vorzeichen wäre auch kein Beinbruch.

Doch des Präsidenten Amtszeit läuft in den kommenden Tagen aus. Am 12. Januar wählt das tschechische Volk erstmals direkt seinen Staatspräsidenten. Wie in der Slowakei, so ist auch in Tschechien die Sozialdemokratie derzeit die politisch stärkste Kraft. Und die ist in beiden Staaten »Europa-orientiert«.

1918
Durch den Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs entsteht die Tschechoslowakische Republik (CSR)

1938
Im Münchner Abkommen sprechen Großbritannien, Frankreich und Italien dem Deutschen Reich die mehrheitlich von Deutschen besiedelten Randgebiete der CSR zu, ohne die Prager Regierung einzubeziehen

1939
Deutsche Truppen besetzen die »Rest-Tschechei« und stellen sie als Protektorat Böhmen und Mähren unter deutsche Verwaltung. Als Staat unter deutschem »Schutz« wird die Slowakische Republik gebildet

1945
Nach Kriegsende entsteht wieder die CSR, die deutsche Bevölkerung wird mit Zustimmung der Alliierten vertrieben oder ausgesiedelt

1960
Umbenennung der CSR in Tschechoslowakische Sozialistische Republik (CSSR).

1989
Die »Samtene Revolution« beendet den sozialistischen Versuch. Um den Landesnamen entbrennt ein »Gedankenstrich-Krieg«

1990
Das Land nennt sich Tschechische und Slowakische Föderative Republik (CSFR).
1992 – Ohne Referendum beschließt das Parlament die Auflösung der Föderation zum 31. Dezember und damit die Bildung zweier neuer Staaten zum 1. Januar 1993. (nd/Wikipedia)

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