Rettet uns der Baron von Tilton?

John Maynard Keynes heute

  • Klaus Müller
  • Lesedauer: 6 Min.

König Karl II. schlägt im Jahre 1661 William Petty, den Sohn eines Tuchmachers, zum Ritter. Für Marx ist Sir Petty der Vater der englischen Nationalökonomie. 281 Jahre später ernennt König Georg VI. einen Dozenten der Universität Cambridge zum Peer. Der Geadelte bekommt einen Sitz im Oberhaus des Parlaments, dem Haus of Lords. Nie zuvor hatten die Mächtigen einen Volkswirtschaftler so geehrt. Sein Name: John Maynard Keynes (1883-1946). Wer war dieser Mann?

Lord Keynes, der Baron von Tilton, Sohn eines bekannten britischen Nationalökonomen, in Cambridge geboren, besuchte Englands Eliteschule, das Eton College und das King’s College in seiner Geburtsstadt, wo er Philosophie, Ökonomie und Mathematik studierte. Später arbeitete er im Indien-Ministerium, leitete eine Versicherungsgesellschaft, beriet das britische Schatzamt, war Mitglied des Direktoriums der Bank von England. Er gab eine Wirtschaftszeitschrift heraus, sammelte Kunst und seltene Bücher. Er förderte Theater und Ballett, war erfolgreich als Spekulant. Nicht wie mancher Professor der Ökonomie, der sein Vermögen dabei verlor. Er war kein brillanter Theoretiker, eher ein kluger Wirtschaftspolitiker. Keynes wollte zeigen, wie man den Kapitalismus retten kann, den Marx im Todeskampf sah.

Heute prägen neoliberale Ökonomen die Studieninhalte an den Universitäten. Sie können keine Krisen erklären, wissen nicht, wie man sie verhindern und überwinden kann. Widerstand regt sich gegen die Kolumbusse mit Glasperlen im Gepäck. Dabei rückt mit Keynes ein Vertrauter ins Blickfeld. Selbst Linke suchen heute in den Lehren des Engländers nach Tipps für die Wirtschaftspolitik.

Welchen Keynes meinen sie? Den Zyniker, der empfahl, die Reallöhne zu senken? Den Optimisten, der die Nachfrage stärken wollte? Oder den Pessimisten, der eine anhaltende Stagnation für unausweichlich hielt?

Der Reallohnsenker

Das Hauptwerk des Briten »Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« erschien 1936. Hastig geschrieben, schlecht redigiert und holprig übersetzt, ist es kein Lesevergnügen. Aber es löste, so Nobelpreisträger Paul A. Samuelson, die größte Umwälzung im ökonomischen Denken aus. Dieses Urteil ist übertrieben, aber verständlich. Keynes gab unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise zu, was jeder sehen konnte, aber kein Universitätsprofessor auszusprechen wagte: Es gibt keine Selbstheilungskräfte des Marktes. Die herrschende Lehre bestreitet bis heute, dass Menschen unfreiwillig arbeitslos sein könnten. Keynes erklärte, was offenkundig war, auf seine Art.

Weshalb suchen Männer und Frauen vergeblich Arbeit? Seine Antwort: Die Reallöhne sind zu hoch, die Arbeitskräfte den Unternehmern zu teuer. Weil die Arbeiter sich gegen die Kürzung ihrer Nominallöhne wehrten, sollten die Unternehmer die Reallöhne senken, also die Preise erhöhen. Bei konstanten Nominallöhnen würden Arbeiter und Arbeiterinnen sich weiterhin einbilden, das Gleiche zu verdienen. Keynes glaubte, dass den Menschen nur wichtig sei, was man ihnen zahlt, der Nominallohn. Weniger achteten sie darauf, wie viel sie sich damit kaufen können (Reallohn). Die »gewaltige Umwälzung im ökonomischen Denken« enthält den zynischen Vorschlag, die Geldillusion der Leute zu missbrauchen und deren reale Löhne zu senken.

Der Wachstumsankurbler

Keynesianer wollen mit einer antizyklischen Finanzpolitik die Wogen des wirtschaftlichen Auf und Ab glätten. Der Staat solle im Aufschwung die Steuern erhöhen, die Ausgaben senken, Überschüsse bilden. In der Krise soll er mit dem Ersparten Investitions- und Konsumgüter kaufen. So würde sich die Wirtschaft beleben. Die Idee des Konjunkturausgleichs ist genial und allemal besser als die Sparneurose, die Regierungen angesichts von Krisen und hoher Staatsschuld heimsucht.

Doch sie funktioniert nicht, aus vielerlei Gründen. Joseph A. Schumpeter (1883-1950), österreichischer Ökonom und Harvard-Professor, nennt einen: Der Staat sei unfähig, etwas zurückzuhalten für schlechtere Zeiten. Eher würde sich der Mops einen Wurstvorrat anlegen. Auch Keynes scheint dies zu befürchten. Deshalb fordert er eine expansive Geldpolitik, niedrige Zinsen und beliebig vermehrbares Geld in der Hand des Staates.

In Bezug auf die Bedeutung der Nachfrage für das Wirtschaftswachstum kreuzen sich die Gedanken von Keynes und Marx. Kommt von daher die obskure Formel »Keynes +« ? Mit ihr versuchen linke Ökonomen den notwendigen ökonomischen Wandel auf den Punkt zu bringen. Marx hat den letzten Grund für die Krisen in der Konsumkraft der Massen gesehen, die beschränkt bleibt im Vergleich zum rastlosen Trieb, die Produktion auszudehnen um des Profits willen.

Auch Keynes stieß sich an der Schwäche der Nachfrage. Anders als Marx sah er deren Ursachen in der menschlichen Psyche: Es entspreche der Natur des Menschen, relativ weniger zu verbrauchen, wenn das Einkommen steigt. Einkommen wachsen stärker als der Konsum. Unternehmer befürchten, dass die Renditen sinken. Sie investieren deshalb zu wenig. Geld wird zurückgehalten. Waren sind unverkäuflich. Kapazitäten bleiben ungenutzt. Fest steht: Wer die Nachfrage stärken will, muss denen mehr Einkommen geben, die zu wenig davon haben, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

Im Jahre 1993 hatte der Anteil der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit am Volkseinkommen in der BRD 72,5 Prozent betragen. Seitdem ist diese Kennziffer, die Lohnquote, gesunken. Wäre sie bis heute gleich geblieben, hätten die Arbeitnehmer etwa 1000 Milliarden Euro mehr für den Konsum gehabt.

Der Arbeitszeitverkürzer

Keynes hielt die Stärkung der Massenkaufkraft und die Umverteilung zugunsten der niedrigen Einkommen für notwendig und wünschenswert. Doch er wusste auch, dass man so das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung nicht auf Dauer erhöhen kann. Je größer Einkommen und Konsum, um so näher die Sättigung. Irgendwann konsumieren die Leute weniger, sparen mehr. Wo der private Verbrauch nur gering zunimmt, unterbleiben die Investitionen. Darin sieht Keynes den Kern der Stagnation, die typisch ist für alle hoch entwickelten Ökonomien, unvermeidbar und lange Zeit anhaltend.

Sachliche, zeitliche, räumliche Grenzen für den Konsum des Einzelnen zügeln das Wachstum. Bei schrumpfender und alternder Bevölkerung auch das der Volkswirtschaft insgesamt. Nobelpreisträger Paul Krugman, der sagt, er habe Keynes mit Ehrfurcht gelesen, rät dem Staat und den Banken, in dieser Lage die Geldschleusen zu öffnen. Damit liegt er falsch. Weshalb das Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller Güter und Leistungen der Volkswirtschaft, weiter steigern? Es enthält bereits Überschüsse. Einkommenszuwachs kann die Nachfrage bis zur Sättigung anheben, aber nicht darüber hinaus. Das ist das Dilemma.

Und zugleich die Chance: Ökonomen wie Heinz-Dieter Haustein sehen in der Ablösung der Wachstumswirtschaft durch eine neue Ökonomie der sozial-ökologischen einfachen Reproduktion ein Gebot der Vernunft. Auch weil die Ressourcen der Erde abnehmen und die Belastung der Umwelt zunimmt. Wer, wie die Bundesregierung, unter diesen Vorzeichen per Gesetz beschließt, das Wachstum zu beschleunigen, muss sich fragen lassen, ob er versteht, was er fordert.

Wer, wie die Neoliberalen, die Wochen- und Lebensarbeitszeit verlängern will, irrt. Die Arbeitszeit kann rigoros gekürzt werden. Niemand braucht mehr arbeitslos zu sein. Keynes schwebte eine tägliche Arbeitszeit von drei Stunden bzw. eine 15-Stunden-Arbeitswoche vor. Sie ist auf hohem Produktivitätsniveau prinzipiell möglich, trotz schwieriger Umstellungen. Die Menschheit, durch den technischen Fortschritt befreit von den Fesseln der Arbeit, war das nicht der Traum des Karl Marx? Nur fiel es dem großen Kritiker der Politischen Ökonomie schwer, sich vorzustellen, dass die Vision wahr werden könnte solange Kapitalisten glauben, ein Naturrecht auf Profit zu besitzen. Selbst Keynes hatte da seine Zweifel.

Prof. Dr. Klaus Müller hat Finanzökonomik und Außenwirtschaft studiert, habilitierte über Verteilungstheorien und ist heute Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Chemnitz und an der Berufsakademie Glauchau.

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