Rückzug des Rechtsstaats?
Die geplante Justizreform im Nordosten schlägt hohe Wellen
Als Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) vor Weihnachten dem NDR sein »Jahresinterview« gab, sorgte er sich um den Koalitionsfrieden in Zeiten des Bundestagswahlkampfes: Trotz aller bundespolitischen Auseinandersetzungen, sagte er, müsse die Koalition in Schwerin gut weiterarbeiten. Ausdrücklich nahm Sellering dabei Bezug auf die von Rot-Schwarz geplante »Gerichtsreform« für das Land.
Der Plan der Regierung, die Zahl der Amtsgerichte im Land von 21 auf zehn - bei fünf »Zweigstellen« - zu reduzieren, sei »notwendig« und müsse auch umgesetzt werden. Gerade dieses Projekt aber ist beim Koalitionspartner nicht unumstritten; mehrere CDU-Abgeordnete haben ihren Widerstand angekündigt, als Kritiker der Reform haben sich in der CDU-Fraktion u.a. der frühere Parteichef und Wirtschaftsminister Jürgen Seidel und der Landtagspolitiker und Junge-Union-Chef Marc Reinhardt geoutet.
Auch bei den Bürgern trifft die radikale Ausdünnung der Amtsgerichte nicht auf große Sympathie. Als der Landes-Richterbund, die Rechtsanwalts- und Notarkammer, Landesanwaltverband und Notarbund im vergangenen Frühjahr eine Volksinitiative zur Abwendung der Amtsgerichtsbarkeits-Halbierung starteten, unterschrieben in kurzer Zeit 35 000 Landeskinder - weit mehr als nötig waren, damit sich der Landtag mit dem Thema beschäftigt.
Doch als die Initiative im Oktober 2012 ins Plenum kam, griff die Koalition zu einem Taschenspielertrick: Sie trat der Initiative »für einen Erhalt einer bürgernahen Gerichtsstruktur in Mecklenburg-Vorpommern«, die keine konkrete Standortzahl nannte, einfach bei - denn nichts anderes bezwecke ja die Regierungsvorlage. Das Koalitionsargument lautet dabei, dass eine sinkende Bevölkerungszahl weniger Gerichtsverfahren nach sich ziehen werde - ein Argument, das die Opposition in Schwerin nicht gelten lassen will. »Es gibt keinen einfachen linearen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungszahl und dem Auslastungsgrad von Amtsgerichten«, sagt etwa Barbara Borchardt, die rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Über das Amtsgericht liefen auch Fragen der Betreuung oder der Erbschaft, die aufgrund der durchschnittlichen Alterung der Bevölkerung eher zu- als abnehmen würden, sagt sie. Zudem seien die Grundbuchämter in Amtsgerichte integriert - und Grundstücksfragen spielten gerade in einem Tourismusland wie dem Nordosten eine große und potenziell wachsende Rolle. Aus Borchardts Sicht stellen die Regierungspläne nichts anderes dar als den »Rückzug des Rechtsstaats aus der Fläche«; das im Grundgesetz verankerte »Rechtsgewährungsgebot« werde verletzt, wenn der Weg zwischen Bürger und dem nächsten Amtsgericht zwischen 50 und 70 Kilometern betrage. In Brandenburg, sagt Borchardt, seien es nur 30 Kilometer.
Weiterhin ist nicht nur sie Opposition, sondern sind auch die Juristenverbände im Nordosten höchst unzufrieden mit der geplanten Reform. Beim Richterbund etwa stößt der Regierungskompromiss - etwaige Versorgungslücken sollen durch die fünf »Zweigstellen« ausgeglichen werden - auf wenig Gegenliebe. Nach dem »Beitritt« der Regierungsfraktionen zur Volksinitiative beharrte etwa dessen Sprecher Jörg Bellut darauf, dass zehn eigenständige Amtsgerichte einfach zu wenig seien für ein Flächenland von dieser Größe. Besonders problematisch sei die geplante Schließung des Amtsgerichts in Demmin: Die Stadt, die in der jüngsten Kreisreform bereits den Sitz einer Kreisregierung verlor, drohe allmählich zum weißen Fleck zu verkommen.
Bislang sieht es dennoch so aus, als würde die rot-schwarze Koalition in Schwerin die benötigten 36 Stimmen für die Reform zusammenbekommen. Die Kritiker wollen indes nicht aufhören, auf ihr Anliegen hinzuweisen. Am Donnerstag hatte daher die Linksfraktion auf ihrer Klausurtagung in Banzkow bei Schwerin eher ungewöhnlichen Besuch: Unter anderen wurden der Richterbund-Vorsitzende Axel Peters und die Präsidentin des Landessozialgerichts, Birgit Freund, erwartet. Man wolle sich über Möglichkeiten austauschen, die Reform noch abzubremsen, hieß es bei der LINKEN.
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