Ein großer Jubilar
Lutosławski-Werke im Konzerthaus Berlin
Orchester, Musiker, Sänger gedenken seiner. Das ist nötig. Denn selbst große Meister werden vergessen, sobald sie gestorben sind. Heiner Müller erging (und ergeht) es so, Henze wird es so ergehen, wie es Dessau erging. Hartmann und Bernd Alois Zimmermann vegetieren ganz am Rand. Bald schlummern auch sie in Ewigkeit, es sei denn, Morgenröte tut sich auf. Frührot ist aber nicht zu erwarten.
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) unter Marek Janowski widmete dem vor hundert Jahren geborenen Komponisten Witold Lutosławski (er starb 1994 in Warschau) im Konzerthaus dankenswerterweise ein Programm. Es erklangen zwei Orchesterwerke der mittleren Periode, dazu das 2. Klavierkonzert von Bartók. Die Paarung entbehrt nicht ihres Sinnes. Lutosławski ist ohne Bartók kaum zu denken.
Wenige Worte zu Witold Lutosławski selbst. Jenes von gewaltigen Extremen geschüttelte 20. Jahrhundert durchschreitet der stolze, geradlinige, hochbegabte Künstler kurvenreich. Sein Vater baut im zaristischen Russland polnischer Befreiungstruppen mit auf, wird 1915 verhaftet und drei Jahre später als »Konterrevolutionär« bei Moskau exekutiert. Die Mutter zieht die drei Söhne allein groß. Das Frühtalent erhält zeitig Musikunterricht. Mit neun fängt Witold an zu komponieren. Mit achtzehn studiert er Klavier und Komposition am Warschauer Konservatorium.
Entsetzlich für ihn die Okkupationszeit, die Massenmorde der Deutschen an polnischen Juden, Kämpfern, Kommunisten, Intellektuellen. Die kulturellen Einrichtungen in Warschau liegen in Trümmern. Lutosławski hat Glück. Er überlebt, unterbricht seine Musikstudien, verdingt sich als Pianist in Cafés. Während dieser Zeit entstehen seine »Variationen über ein Thema von Paganini«, eine Klavierarbeit, die berühmt wurde und heute noch gern vorgeführt wird. 1947 beendet er seine noch ganz neoklassizistisch formulierte 1. Sinfonie. Anfangs befangen im Neoklassizismus, löst er sich daraus. Die Polnische »Tauwetter«-Zeit seit Stalins Tod weitet den Horizont. 1956 begründet er mit Gleichgesinnten das Festival »Warschauer Herbst«. Ein profundes Unternehmen. Informationsschau. Pilgerstätte. Raum neuer, ungeahnter Angebote aus Ost und West. Die Avantgarde tummelt sich dort, zentral die einheimischen Komponisten, Ensembles, Orchester. Sie entwickeln beträchtliches Niveau.
Lutosławski bestimmt das Neue-Musik-Leben in Polen entscheidend und verändert sich selbst. Allenthalben im Kompositorischen. Er entdeckt für sich die Zwölfton-Methode, verwendet sie ohne jedes Dogma und löst sich wieder von ihr. Der Mann gilt als Miterfinder des »aleatorischen Kontrapunkts«. Er komponiert wie Penderecki und andere Polen Stücke mit begrenzt freien Abläufen, notiert in tonraummarkierenden Wellenlinien. Die Folgejahrzehnte sind kompositorisch reich gefüllt. Es entstehen vier Sinfonien, diverse Kammermusik, darunter ein Streichquartett, »Mi-Parti« für Orchester, »Livre pour Orchestre« und dergleichen. Allesamt verleugnen sie die Hingabe an die subtile Klanglichkeit eines Debussy, der gemäßigten französischen Moderne, nicht.
Marek Janowski dirigierte nicht zufällig Lutosławski, er ist gebürtiger Pole und weiß sehr wohl mit polnischen Partituren umzugehen. Dick besetzt die »Trauermusik für Béla Bartók«, geschrieben zum zehnten Todestag des ungarischen Komponisten 1955 (beim Begräbnis Bartóks waren von den Musikern nur Edgar Varese anwesend). Die Streichergruppen sind zweigeteilt. Das Stück, eine Zwölfton-Phantasie mit quasi B-A-C-H-Motivik, getragen, anschwellend, abschwellend, kann auch als Sextett oder für 16 Solostreicher aufgeführt werden. Da ist der Klang durchsichtiger und, wenn’s hoch kommt, auch eindringlicher. Das RSB musizierte indes in voller Streicherbesetzung. Das wirkte dicklich, bisweilen mulmig, konnte angesichts der wunderbar durchgearbeiteten Bogenform, sie endet mit einem traurigen Cello allein, gleichwohl gefallen.
Beim Bartók-Klavierkonzert - ähnlich Debussy scheint Bartók, wie erwähnt, die Referenz des polnischen Meisters gewesen zu sein - brillierten die junge aus Noworossisk stammende Anna Winnitskaja und vornehmlich die Holz- und Blechbläser. Deren holpriger, teils motorischer, teil rhythmisch inegaler Abtausch bringt Seele und Sinne in Wallung.
Höhepunkt das abschließende weiträumige Konzert für Orchester, das Lutosławski 1954 schrieb. Ein neoklassizistischer Schinken? Mitnichten. Die konzertierenden Elemente funkeln und befauchen sich wechselseitig. Folklorestimmen, in barocke Gerüste gesetzt, mischen im besten Sinne mit. Rasant die Tempo- und Charakterwechsel in der Manier des Concerto grosso. Atemberaubend das kapitale, die Herzen befeuernde Finale.
Ein den beiden Meistern würdiger Abend. Klar wurde: Nicht nur zu hundertsten Geburtstagen gehören Großmeister in die Säle.
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