Abgeschlossen - aufgeschlossen
Kolloquium in Berlin würdigte die Edition der ökonomischen Schriften von Karl Marx
Für eine Öffentliche Tagung, dem Charakter nach ein Festkolloquium, das sich dem Abschluss der Abteilung II (»Das Kapital« und Vorarbeiten) der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) widmete, bot das Haus am Berliner Landwehrkanal ein durchaus passendes Ambiente: die sachliche Architektur von Bernd Albers, geistdurchdrungen, in seiner Nutzung disputversessen. Es gehört der Friedrich-Ebert-Stiftung, die gemeinsam mit der Internationalen Marx-Engels-Stiftung und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften eingeladen hatte - Institutionen, welche die Jahrhundertedition tragen oder getragen haben (die Friedrich-Ebert-Stiftung stieg 2003 aus der philologischen Marx-Forschung aus).
Nach 145 Jahren, wenn wir uns auf das Erscheinen des ersten »Kapital«-Bandes beziehen, liegen nun die ökonomischen Schriften von Marx mit all ihren Entwürfen, Ergänzungen, Varianten vor - die »vollendete Edition eines unvollendeten Projekts«, so das Motto der Veranstaltung. Mit deutlicher Anspielung auf arg verzögerte Großbauten materieller Art resümierte Herfried Münkler: Die Editoren haben »geliefert«, und zwar im gleichen Rhythmus wie zu DDR-Zeiten, als an die hundert Mitarbeiter am Werk waren. Das stimmt nicht ganz, die Erscheinungsdaten damals lagen dichter. Seit 1994 sitzen nur noch sieben Experten im alten Akademiegebäude, die indes das Kompetenzzentrum eines internationalen Netzwerkes bilden.
Insgesamt 15 Bände in 22 Teilbänden - eine großartige Leistung. Münkler brachte die Paradoxien, die der MEGA eingegeben sind, auf den Punkt. Es galt, einen festgefügten Kanon, insbesondere die von Friedrich Engels edierten Bücher 2 und 3, zu dekonstruieren, die Marxschen Texte zu »entsiegeln«, wie es Münkler nannte. Das habe eine politische Sprengkraft, die man der Editionsphilologie gar nicht mehr zugetraut hätte.
Schon die Präsentation der Schriften, die eine Gleichzeitigkeit der Arbeit an manchen Texten erkennen lässt, Abbrüche, Widersprüche zwischen einzelnen Fassungen, ermöglicht einen neuen, offeneren Zugang. Ob das den Initiatoren der MEGA in den 70er Jahren klar gewesen ist? Michael Heinrich, einer der kenntnisreichsten Dekonstrukteure, seit der Erfolgspublikation »Die Wissenschaft vom Wert« weithin bekannt, ging darauf ein, dass die ursprüngliche Planung noch von einem finalen »Kapital« ausging, zu dem in ständigem Erkenntnisfortschritt jedes bekritzelte Papier hinführte, sozusagen zu einer »Ausgabe letzter Hand«. Aber weder lassen sich alle »Vorarbeiten« linear in Richtung der letztlich gedruckten »Kapital«-Bände lesen noch haben wir es mit einem abgeschlossenen Werk zu tun. Das wurde in allen Beiträgen deutlich. Heinrich meint, dass sich nach 1870 eine neue Konzeption des »Kapital« abzeichnete, die Marx unter anderem deshalb nicht verwirklichen konnte, weil er sich den »Stoff« über die Weltwirtschaftskrise 1873 noch nicht »im Detail« angeeignet hatte.
Mehrere Referate kreisten um das sogenannte Marx-Engels-Problem, d. h. die Zweifel um die Authentizität der Engelsschen Redaktion, die eigentlich als behoben gelten können. Derweise, dass Engels nicht willentlich den Marxschen Intentionen zuwiderlaufende Korrekturen vorgenommen hat. Dank der MEGA-Edition wurden aber Differenzen deutlich, auf die Teinosuke Otani (Tokyo) und Izumi Omura (Sendai) sowie die Berliner Historikerin Regina Roth eingingen. Ein Beispiel: In den zweiten Band des »Kapital« hat Engels »Circulationskapital« als einheitlichen Schlüsselbegriff eingeführt. Marx gebraucht stattdessen den Begriff »circulierendes Kapital«, jedoch in vier verschiedenen Bedeutungen.
Die Frage, ob die MEW-Bände nun verworfen werden müssen, konnte nicht ausbleiben. Nach anfänglichem Ja überwog die Ansicht, dass für wissenschaftliche Bemühungen die MEGA unverzichtbar ist, als Studienausgabe die preiswerten blauen Bände jedoch »zu 90 Prozent« ihren Zweck erfüllen. Thomas Kuczynski, der an einer Edition des »Kapital« Band I für das allgemein interessierte Publikum arbeitet, wusste von den Schwierigkeiten zu berichten, dies auf gesicherter Textgrundlage zu leisten. Allein deshalb, weil es sechs unterschiedliche Ausgaben des Bandes gibt, am weittragendsten die zweite deutsche und die französische. Alle haben ihre Vorzüge und Nachteile, eine Kompilation bringt aber schon enorme Übersetzungsprobleme mit sich. »Der Abschluss der historisch-kritischen Edition ist somit zugleich ein Neubeginn.«
Dem Festvortrag des Grazer Ökonomen Heinz K. Kurz lauschte das Auditorium fasziniert, eine intellektuelle Delikatesse - wenn man nur alles verstanden hätte. Nicht dass der Referent sich von empirischen Zusammenhängen entfernt hätte, im Gegenteil. Aber auch mit Schwung und Humor dargeboten erweisen sich die nicht beabsichtigten Konsequenzen ökonomischer Sachverhalte als schwer greifbar. Kurz exerzierte das am Beispiel der Profitrate. Gewiss fällt die Profitrate »gesetzmäßig«, wie Marx formuliert hat - unter bestimmten Voraussetzungen. Und sie steigt wiederum unter anderen Voraussetzungen. Marx hat das im Alter erkannt. Aber welche nichtintendierten, oft egoistischen Strebungen kommen dem in die Quere?
Ein erstes Resümee. Was nach all der peniblen philologischen Arbeit als neu an den ökonomischen Theorien verstanden werden muss, darauf konnte das Kolloquium noch keine Antwort geben.
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