Rücktritt als Selbstschutz
Schavan, Ratzinger
Annette Schavan, Noch-Bildungsministerin, und Joseph Ratzinger, Noch-Papst, haben zwei Dinge gemein: Beide sind praktizierende, aktive Katholiken und beide sind von ihrem Amt zurückgetreten. Beiden aber wird auch unterstellt, diesen Schritt aus Gründen der Einsicht in das persönliche Scheitern, in die Unmöglichkeit, gar Unfähigkeit, den gestellten Aufgaben noch gerecht zu werden, getan zu haben. Ist dem so oder reagierten beide bloß auf äußeren Druck? Im Zeitalter der Vergemeinschaftlichung des Subjekts, in der jede individuelle Eigenart zur allgemeinen Mode wird, lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten.
Noch unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders galt in der deutschen Politik die Devise, am Amt kleben zu bleiben, sich von der Berichterstattung in den Medien, der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung nicht kirre machen zu lassen. Bei Bedarf wurde die Wirklichkeit umgedeutet. Man denke nur an den TV-Auftritt Gerhard Schröders nach der verlorenen Bundestagswahl 2005, als er die Niederlage zum Sieg umzudeuten versuchte. Was nach außen ein peinlicher Auftritt war, war nach innen Ausdruck von individuellem Beharrungsvermögen. Was kümmert es die Eiche, wenn die Säue sich an ihr reiben.
Heute halten sich viele für Eichen. Frank Schirrmacher, Konservativer und Mitherausgeber der »FAZ«, hat ein Buch geschrieben. Es heißt »Ego«, ist noch gar nicht auf dem Markt, aber der Autor hat Anfang dieser Woche in einem »Spiegel«-Essay bereits die Kernthesen seines Buches dargelegt. Zuvorderst die vom Egoismus der Vielen, der das Ganze (den Kapitalismus, bei ihm soziale Marktwirtschaft genannt) zu zerstören droht.
Doch wer trägt dafür die Verantwortung? Schuld am Neoliberalismus, an der Durchsetzung der Idee, dass an alle gedacht wäre, würde nur jeder an sich denken, seien, so Schirrmacher, die Physiker. Im Kalten Krieg sei die Formel geboren worden, das jeder Mensch eigennützig handele. Nach dieser Formel habe die Politik des Westens zwischen 1945 und 1989 funktioniert, die Ökonomen hätten dafür die Instrumentarien entwickelt, die Physiker die Algorithmen für die Computer und Maschinen geschrieben, derer sich wiederum die Militärs bedienten. In den 1990er Jahren, so Schirrmacher, heuerten die Physiker auch »bei Banken und Fondsmanagern an«. Mit Hilfe ihrer Algorithmen wurden nun Kursverläufe berechnet.
Der Rest ist bekannt: enthemmter Finanzkapitalismus, Crash, Krise. In Dürrenmatts Drama »Die Physiker« stellen sich die Naturgelehrten verrückt und hoffen, hierdurch den Irrsinn der Weltvernichtung verhindern zu können. Bei Dürrenmatt scheitern die Vernünftigen am Irrsinn der Realwelt. In dieser sind die Physiker die Irrsinnigen. Auch Schirrmacher macht wenig Hoffnung. Die neue Ökonomie der Physiker habe es geschafft, die Verantwortung für ihr Scheitern auf das Ich der Menschen abzuwälzen.
Joseph Ratzinger zieht sich ins Kloster zurück. Das Ich weigert sich, weiterhin Verantwortungszentrale der Welt - Eiche - zu sein. Das unterscheidet ihn von Annette Schavan.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.