Libyen feiert im Bann der Milizen
Wenig Zufriedenheit am zweiten Jahrestag des Beginns des Aufstandes gegen Gaddafi
Ali ist zufrieden. Er hat mit dem Jahrestag der libyschen Revolution ein gutes Geschäft gemacht. »Fast jeder, der vorbeifuhr, kaufte eine Flagge. «Selbst, wer am Vortag schon eine mitgenommen hatte, tat das am Tag darauf noch einmal.» Ali verkaufte die neue, rot-schwarz-grüne Nationalfahne am Märtyrerplatz, der vormals Grüner Platz hieß; jener Ort in Tripolis, an dem vier Jahrzehnte lang die großen Feierlichkeiten von Muammar Gaddafi stattfanden.«
Als die Rebellen im August 2011 die Hauptstadt eroberten, wehten hier noch die grünen Fahnen der ihnen verhassten Diktatur. Ein riesiges Stahlgerüst stand noch, das für die geplante Feier des 41. Jahrestags der Volksrevolution vom 1. September 1969 errichtet worden war. Daran sollte das größte Poster der Welt, selbstverständlich mit dem Konterfei Muammar al-Gaddafis, befestigt werden. Mit dem Personenkult ist es vorbei. Gaddafi wurde im Oktober 2011 in seiner Geburtsstadt Sirte in einer Abwasserröhre gefunden und getötet. Seitdem ringt Libyen um den Aufbau eines neuen Staates und demokratischer Strukturen. Im Juli gab es zum ersten Mal freie Wahlen. Die 200 Abgeordneten des Allgemeinen Nationalen Kongresses bestimmten eine Übergangsregierung.
Trotzdem hat sich seit dem »Tag der Befreiung« am 23. Oktober, drei Tage nach dem Tod Gaddafis, wenig getan. Das Revolutionsjubiläum ist nicht nur ein Anlass zum Feiern. In Tripolis tauchten Flugblätter auf, die zu einer zweiten Revolution aufriefen: »Für eine Volksrevolte« und »ziviler Ungehorsam gegen die Autoritäten.« Die libysche Regierung erklärt, sie vermutet dahinter »Kräfte des alten Regimes, die Chaos und Instabilität säen wollen«.
Dabei sind die Menschen nur unzufrieden über Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit, Korruption und die Willkür Hunderter von verschiedenen Milizen. Die Behörden verlangen nun spezielle Genehmigungen für »friedliche Proteste«. In Bengasi werden ebenfalls Demonstrationen erwartet. Zum einen wollen Anhänger der Unabhängigkeit des libyschen Nordostens, der Cyrenaika, auf die Straße gehen. Größere Proteste werden in Bengasi jedoch gegen die Macht der Milizen, insbesondere gegen die der Islamisten, erwartet.
Extremistische, zum Teil Al Qaida nahestehende Gruppierungen, haben rund um Bengasi, aber auch in der 300 Kilometer entfernten Stadt Derna Basen und Trainingslager eingerichtet. Eine dieser islamistischen Milizen soll für den Anschlag am 11. September letzten Jahres auf das US-Konsulat in Bengasi verantwortlich sein. US-Botschafter Chris Stevens war dabei ums Leben zu kommen. Die libyschen Sicherheitsbehörden sind in Alarmbereitschaft. Die Angst geht um, dass Proteste in gewaltsame Konflikte ausarten könnten. Kein Wunder, in einem Land, dass bis auf die Zähne bewaffnet ist.
Die Milizen, die mit Hilfe der NATO Gaddafi und seine Armee zu Fall brachten, haben sich bisher geweigert ihre Waffen abzugeben. In einigen Städten haben die Bewohner Nachbarschaftswachen aufgestellt. Viele haben Nahrungsmittel und Kochgas auf Vorrat gekauft.
»Wir müssen bereit sein«, sagte Wanis, ein Familienvater von vier Kindern in Tripolis. »Man weiß nie, was passiert. Es gibt keine Stabilität, und die Regierung hat keinerlei Autorität.« Noch immer bestimmen die Milizen. Sie haben Polizeigewalt, können wahllos verhaften, haben ihre eigenen Gefängnisse und Gerichte. Zu Tausenden sind Gefangene landesweit eingesperrt, ohne jegliche Kontrolle und rechtsstaatliche Verfahren. Einige Milizen könnten die Gelegenheit nutzen, um Regierungsgebäude, Raffinerien oder Flughäfen zu besetzen. Ein »worst case«-Szenario, aber in Libyen, ohne jegliche staatliche Autorität, jederzeit denkbar.
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