Zerschlagene Hoffnung
Rimski-Korsakow, Mussorgski, Schostakowitsch im Konzerthaus Berlin
Wie klingt Russland?» - der Konzerthaus-Slogan gehört zum Russland-Jahr in Deutschland 2012/13. Russland ist natürlich musikalisch unendlich viel reicher in Geschichte und Gegenwart, als das jene drei Worte nahe legen. Aber man hat sich ins Zeug gelegt und Erstaunliches zusammengestellt. Es geht um Konzertmusik und Angrenzendes, subsumiert unter die Kategorien Sinfoniekonzert, Kammermusik, Ballett, Neue Musik, Folklore, Film, Lesung und Kulinarik. Wie neckisch: Flaschen und Speisen, etikettiert mit Wodka, Champanskoje, Pelmeni und sonstiger Fress- und Sauf-Emblematik, warten auf ihre Käufer.«
Unverkennbar sind Schwächen. Die allermeisten Veranstaltungen handeln von Tradition. »Folkloristisch« meint offenkundig, was die Touristen gemeinhin wünschen und erfahrungsgemäß so bunt wie falsch serviert bekommen. Ballett fokussiert namentlich den »Sterbenden Schwan« und, wenn’s hoch kommt, »Petruschka«, im Großen freilich die choreografischen Künste und erratischen Traditionen des Bolschoi.
Wie anmutig: Berlin, Weltstadt, Tummelbecken verschiedenster Nationalitäten, Hort von Armut und Rassismus, Umschlagplatz »hoher« und »niedriger« Kultur. Russland ist Teil dessen. Die Oktoberrevolution, Fanal auch für die Musik, ist ebenso abwesend wie Kulturen der »großen Völkerfamilie« in ihrer Ursprünglichkeit. Sowjetkunst scheint wiederum, das Programmheft verrät es, nur durchzugehen als umgewidmet zur Schießscharte wider die Kettenhunde an der Leine von zähnefletschenden Oberbonzen. So schlimm gerät’s vielleicht nicht. Aber Relikte davon nisten immer und treiben ihre Larven hervor, was viel wirksamer ist als die heiße Luft des Presslufthammers. Russen leben hierorts zuhauf. Wenn das kein Publikum ist!
Das war dann auch hochgradig präsent am zweiter Tag des Festivals. Dimitri Kitajenko, schlohweißhaarig, Russe wie aus dem Märchen, unterdes ständiger Gastdirigent des Konzerthausorchesters, gab ein astrein russisches Programm. Der Prager Philharmonische Chor wirkte bei Schostakowitschs 13. Sinfonie sangesstark mit. Hervorstechend, allseits bewundert der Bass Arutjun Kotchinian. Erstaunlich die Stimmlichkeit und Ausdrucksfülle, die dieser schlanke, groß gewachsene Mann hervorbringt.
Zu erleben in Modest Mussorgskis »Lieder und Tänze des Todes«, ursprünglich klavierbegleitetes Opus, hier mit dem Konzerthausorchester ausgeführt in einer Weise, bei der einem die Schauer kribbelten. Jener männliche »Totentanzlied«-Gesang erlaubt weder die Dur-Tonalität noch Streifzüge an die Peripherie des tenoralen Registers. Das »russische Moll«, sei es einmal genannt, herrscht über das Gebilde wie die Bojaren über ihre larghetto ausschwärmenden Fußsoldaten. Allenthalben in den mittleren bis tiefsten Regionen regt sich die russische Seele. Geboten wurde die äußerst sparsame, einfühlsame Instrumentierung von Edison Denissow (1929-1996), dem unvergessenen russischen Neutöner.
Russische Hochglanzromantik, wie sie Russophile lieben dürften, lieferte Kitajenko zu Beginn mit Nikolai Rimski-Korsakows Orchesterszenen »Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch« in der Bearbeitung des vergessenen Maximilian Steinberg. Bei »Kitesch« fällt einem Kitsch ein, der verdrießlich stimmt. Einzig der glutvolle, torerospanisch eingefärbte Satz »Festzug bei der Hochzeit der Fewronia (Attacca)« fiel auf im Ablauf der handwerklich durchaus schicklichen Suite und ließ die Ohren aufmerken.
Jewgeni Jewtuschenko lieferte die Texte für die erwähnte 13. Sinfonie b-moll op. 113 für Bass, Männerchor und Orchester. Schostakowitsch hat sie 1961 in einer Literatur-Zeitung gefunden und war begeistert. Das Gedicht »Ängste« erbat er sich vom Dichter extra aus. Wahrlich mächtig ist die Gesamtarchitektur, so schlank, ökonomisch wie dicht und monumental, in allem gedanklich-philosophisch weit ausgreifend. Nr. 1, »Babi Jar« (es bezeichnet den Ort des Massakers der SS an 30 000 Juden), ist der klanglich tollkühnste, eindringlichste, fanalartig den Antisemitismus anklagende Teil.
»Ängste sterben aus in Russland«, behauptete der Dichter. Und der Komponist komponierte es. Das war in der »Tauwetterzeit«. Die Hoffnung zerschlug sich und ist heute in unendliche Ferne gerückt. Die Umsetzung der ganzen Sinfonie mit dem robusten Prager Männerchor und atemberaubend gestaltenden Arutjan Kotchinian, glückte aufs Eindringlichste.
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