Statistischer Sprung über die Klippe

Ostdeutschland könnte zum Verlierer eines EU-Sparetats werden

Heute entscheidet das Europaparlament über die EU-Finanzplanung bis 2020. Viele Abgeordnete sehen den »Sparkompromiss« kritisch. Auch, weil er zulasten der Regionen geht.

Cornelia Ernst hat Post bekommen. »Ich bitte Sie darum, in den jetzt anstehenden Verhandlungen im Europäischen Parlament den im Europäischen Rat gefundenen Kompromiss nicht wieder infrage zu stellen«, schreibt Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich an die Fördermittelexpertin der linken GUE/NGL-Fraktion im EU-Parlament. Gemeint ist die heute in Straßburg anstehende Abstimmung über den »Mehrjährigen Finanzrahmen« 2014 - 2020 (MFR) der EU, mit dem die Mitgliedstaaten 88 Milliarden Euro einsparen wollen - auch über die Reduzierung der Ausgaben für die Struktur- und Regionalpolitik.

Ernst sitzt im Regionalausschuss des EU-Parlaments und warnt bereits seit Langem vor den Folgen gekürzter Fördermittel für Ostdeutschland. Insgesamt 7,2 Milliarden Euro an Fördergeldern sehen die MFR-Planungen für Regionen in Ostdeutschland vor - etwa 36 Prozent weniger als bisher. Für Brandenburg steht schlimmstenfalls eine Kürzung von 900 Millionen Euro an, ebenso für Thüringen, für Mecklenburg-Vorpommern 800 Millionen Euro, für Sachsen 1,7 Milliarden und für Sachsen-Anhalt 1,2 Milliarden. Zu wenig, um bisherige Vorhaben mit gleicher Intensität fortzusetzen, befürchtet nicht nur Ernst. Zwar sind Übergangslösungen vorgesehen, mit denen ein abruptes Ende von unterstützten Projekten verhindert werden soll. Ernst vermutet aber, dass selbst die versprochenen Gelder nicht in voller Höhe fließen könnten: »Diese Gelder sind nicht sicher, weil wir keinen gesicherten Haushalt haben«, erklärt sie gegenüber »nd«. Hintergrund ist, dass die 960 Milliarden Euro an sogenannten Verpflichtungen - einer Art Zahlungszusage - nicht über die Einnahmen gedeckt sind. Das ohnehin schon bestehende Defizit im EU-Haushalt könnte laut Schätzungen der EU-Kommission bis 2020 auf bis zu 250 Milliarden wachsen und weitere Einsparungen erzwingen.

In der Finanzperiode 2007 bis 2013 waren noch Fördermittel in Höhe von über 26 Milliarden Euro für Deutschland vorgesehen. Etwa zwölf Milliarden stehen für die neuen Bundesländer bereit, die nahezu komplett in die höchste Förderungskategorie eingruppiert waren. Mit einer durchschnittlichen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts galten sie als besonders unterstützungswürdig. Die Mittel fließen nun vor allem nach Osteuropa, wo die Wirtschaftskraft noch niedriger ist. Dass es den ostdeutschen Regionen aber real besser geht, bezweifeln viele Kritiker. Denn trotz positiver Wirtschaftsentwicklung ist deren Schritt über die 75-Prozent-Marke nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass das Durchschnitts-BIP durch die Aufnahme der schwächeren Osteuropäer insgesamt sinkt. Das »Wachstum« in den neuen Bundesländern sei daher nichts anderes als ein statistischer Effekt.

Auch aus diesen Gründen könnte das EU-Parlament heute den MFR im Straßburger Plenum ablehnen. Dabei haben die Abgeordneten sogar Rückendeckung der EU-Kommission. »Einige Vorkehrungen dieser Einigung drohen dringend benötigte Investitionen für Wachstum vor Ort zu verzögern«, meinte Regionalkommissar Johannes Hahn zu der Einigung der EU-Staats- und Regierungschefs im Februar.

Dass es bei Ablehnung des Sparetats zu Nachverhandlungen kommt, hofft der Haushaltsexperte der linken GUE/NGL-Fraktion Jürgen Klute. »Es gibt auf der einen Seite eine klare Ausweitung der EU-Aufgaben, beispielsweise bei der Überwachung der Finanzmärkte oder beim Auswärtigen Dienst. Auf der anderen werden die Ressourcen dafür gesperrt. Das passt nicht zusammen.« Wenn die Ratsvorlage durchfällt, würde der Haushalt von 2013 automatisch weitergeführt. Die Verschiebung hätte sogar einen Vorteil: Der MFR ließe sich an die Legislatur des EU-Parlaments anpassen, das seit dem Lissabon-Vertrag in Haushaltsfragen gleichberechtigt mit dem Rat entscheiden darf. »Das wäre ein wirklicher demokratischer Fortschritt«, so Klute.

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