»Wer soll das denn alles lesen?«
Plädoyer gegen ein (zu) kurzes Wahlprogramm von Tobias Schulze und Petra Sitte
Bis Juni 2013 soll das Wahlprogramm der Linkspartei stehen – nach breiter Diskussion. Wortmeldungen zum ersten vollständigen Entwurf, vorgelegt am 20. Februar und 86 Seiten dick, gibt es bereits. Tobias Schulze und Petra Sitte warnen davor, zu sehr auf die skeptischen Reaktionen über den großen Umfang des Wahlprogramms einzugehen. Ein solches Papier sei weniger Lektüre als ein „Sammelwerk für die auf die Legislaturperiode abgestimmte Programmatik einer Partei, aus der sich die Öffentlichkeit munter bedient“. Verständlichkeit, Aussagekraft und Präzision müsse vor Kürze gehen, wenn das aus ganz unterschiedlichen Menschen zusammengesetzte Wählerpotenzial der Linken erreicht werden soll.
In der Reihe »Was will die Linke?« zum Wahlprogramm der Partei sind an dieser Stelle bisher Texte von Ralf Krämer (hier), Halina Wawzyniak (hier), Klaus Lederer (hier), Klaus Ernst und Jan Korte (hier) sowie des Sprecherrates der Antikapitalistischen Linken (hier), von Steffen Harzer (hier) und Thomas Hecker (hier) – die Debatte wird fortgesetzt.
Ein Plädoyer gegen ein (zu) kurzes Wahlprogramm / Von Tobias Schulze und Petra Sitte
„Wer soll das denn alles lesen?“ – diese Reaktion war öfter in der Partei zu hören, nachdem der Entwurf für ein Wahlprogramm vorgestellt wurde. Die Antwort lautet: nur wenige sollen das alles lesen. Wahlprogramme werden nicht in Form des umfassenden Studiums durch die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler wahrgenommen. Vielmehr dienen sie als Sammelwerk für die auf die Legislaturperiode abgestimmte Programmatik einer Partei, aus der sich die Öffentlichkeit munter bedient.
Die Tagespresse braucht die schlagzeilenträchtigen „Knaller“, Zeitschriften von Gewerkschaften oder Verbänden suchen speziell „ihre“ Themen und vergleichen alle Parteien in übersichtlichen Tabellen miteinander. Fernsehredaktionen klopfen vor Interviews und Berichten einzelne Bereiche aus dem Programm ab. Der Wahl-O-Mat im Internet etwa nimmt einzelne Aussagen aus dem Programm auf und soll bei der Wahlentscheidung helfen. Und: im Wahlkampfstäben werden kurze und knappe Versionen des Programms entwickelt und als Massenmaterial für Verteilaktionen und den Straßenwahlkampf hergestellt.
Die meisten Wählerinnen und Wähler nehmen die Aussagen eines Wahlprogramms also nicht direkt, sondern vermittelt wahr. Häufig werden lediglich einzelne Aussagen und Positionen entnommen und von Multiplikatoren weiter verbreitet. Diese Vermittler sind Medien, Verbände, Bündnispartner, Gewerkschaften, NGOs – und nicht zuletzt die eigenen Wahlkämpfer_innen.
Leser_innen, Mitglieder, Zuschauer_innen, Sympathisant_innen dieser Vermittlungsinstanzen sehen den Wahltag näher rücken und damit auch die Dringlichkeit einer eigenen Wahlentscheidung. Für viele Bürgerinnen und Bürger stellt die Teilnahme an Wahlen die wichtigste und häufig auch einzige aktive politische Betätigung dar. Die medialen Vermittler von Programmpositionen kennen das Bedürfnis nach Unterstützung für diese individuelle Entscheidung. Die verschiedenen Zugänge dieser Vermittler zu einem Wahlprogramm sind so vielfältig wie unsere moderne Gesellschaft selbst.
Wenn man die Funktion eines Wahlprogramms als Steinbruch und Ressource für die weitere Vermittlung ernst nimmt, dann sind Länge und Komplexität also keine Nachteile. Im Gegenteil: seine Positionen müssen die Breite gesellschaftlicher Realität abdecken und werden so oder so einem Realitätscheck unterzogen. Sie sind eine Visitenkarte unserer Fähigkeit zu Diskurs, Konkretion und politischer Gestaltung. Unsere Positionen müssen sich auch in Auseinandersetzung zu anderen Wahlprogrammen bewähren – etwa dem der Grünen mit knapp 160, oder dem der SPD mit gut 100 Seiten. Verständlichkeit, Aussagekraft und Präzision geht aus unserer Sicht vor Kürze.
Die Mitgliederzeitung von ver.di wird sich vielleicht die Positionen zu Arbeit, zu Dienstleistungen und zu öffentlichen Finanzen vergleichen, der Verband deutscher Grundstücksnutzer die zur Privatisierung von Wasser und Müllabfuhr und zur Grundsteuer, der ADAC wird nach Tempolimits, Mautgebühren und Mineralölsteuer schauen und Springer-Redaktionen nach dem Umgang mit dem Erbe des realen Sozialismus. Umweltverbände interessieren sich für die linken Aussagen zum Ausbau Erneuerbarer Energien, zum Artenschutz und zu nachhaltigen Verkehrssystemen. Andere fragen hingegen nach unserem Konzept gegen explodierende Strompreise. Eltern wollen konkrete Antworten auf den Mangel an KiTa-Plätzen und gut ausgebildeten Lehrkräften, Internetaktivist_innen fragen nach dem Netzneutralität und der Vorratsdatenspeicherung. Wissenschaftler_innen wollen von uns wissen, wie wir nach dem Ende von Hochschulpakt und Elitewettbewerb die Unis ausfinanzieren und ihre Arbeitsbedingungen verbessern können.
DIE LINKE wurde 2009 von fast 5,2 Millionen Menschen gewählt. Das Potenzial von Menschen, die sich vorstellen könnten, uns zu wählen, liegt noch deutlich höher. Jeder einzelne dieser Menschen gleicht seine individuelle Lebenswelt, seine Vorstellungen von einer guten Politik mit dem ab, was er von unserer Partei mitbekommt und erfährt. Wir wollen möglichst konkrete und überzeugende, aber auch „empathische“ Antworten auf diese Fragen und Probleme geben. Unser Markenkern, etwa die Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein, muss demnach aus vielfältigsten Perspektiven definiert und mit Leben gefüllt werden. Das ist die Denkleistung, die wir in der Wahlprogrammerarbeitung erbringen. Auch Details können entscheidend sein, manchmal ein Halbsatz, eine Zahl oder ein bisher ungesehener Aspekt. Wir sollten unsere programmatische Arbeit selbst genauso ernst nehmen, wie Medien, Bündnispartner und nicht zuletzt Wählerinnen und Wähler unsere Aussagen und Positionen ohne zu zögern in ihre eigene Welt übersetzen. Sie fragen nach, wie wir etwas genau meinen, unter welchen Bedingungen etwas machbar ist und ob wir überhaupt zur Umsetzung in der Lage sind. Dieses Plädoyer für Vielfalt alles spricht übrigens nicht gegen eine Priorisierung besonders herausgehobener Positionen und Ziele, auch nicht gegen „Storytelling“- es untersetzt diese notwendige Kampagnenarbeit eher. Wir plädieren für eine präzise und konstruktive Programmarbeit in allen Politikfeldern – auch den „Orchideen“. Wir wollen und müssen schließlich bisherige Wähler_innen wieder gewinnen und neue Milieus erschließen.
Sparen wir also weder an Zeichenzahlen noch an Arbeit, um unsere Vorstellungen für einen politischen Arbeitsauftrag an die nächste Bundestagsfraktion der LINKEN zu formulieren. Die offene, konstruktive und breite Debatte auf Regionalkonferenzen, im Internet, in Zusammenschlüssen, mit Bündnispartnern und zuletzt auf dem Bundesparteitag im Juni kann nur helfen, um unser Wahlprogramm wirklich zum besten aller Parteien zu machen.
Tobias Schulze arbeitet bei der Linksfraktion im Bundestag und leitet den Wahlkampf im Wahlkreis 75 Berlin-Mitte. Petra Sitte ist direkt gewählte Abgeordnete der LINKEN aus Halle und forschungs- und technologiepolitische Sprecherin ihrer Fraktion.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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