In allen Liedern: Liebe

Johann Sebastian Bach und der Dialog mit dem eingebildeten Himmel

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 7 Min.

»Er ist wieder erstanden/ Und hat uns bracht das Leben;/ Des wir sollen fröhlich sein,/ Gott loben und ihm dankbar sein/ Und singen Halleluja!« - lässt der erste Versus nach Luther aus Bachs früher Kantate »Christ lag in Todesbanden« BWV 4 hören. Solche Zeilen klingen niedlich und naiv.

Der Chor aus Bachs Oster-Oratorium BWV 249 transportiert die Worte: »Höll und Teufel sind bezwungen,/ Ihre Pforten sind zerstört./ Jauchzet, ihr erlösten Zungen,/ Dass man es im Himmel hört.« Maria Magdalena fragt hernach geschwinde, wo sie Jesum finde. Ihre Seele liebe ihn. Kurios: Das »Komm doch, komm, umfasse mich!« verrät die Sehnsucht ihres Leibes.

Welch Wunder der Einbildung einst und jetzt: Der ans Kreuz Geschlagene lebt wieder, ist auferstanden. Es scheint, als wäre das Evangelium der Gnade, Freude und Liebe hereingebrochen über die sündige Menschheit und habe die Schauder der blutigen Schriften verdrängt. Dass derselbe unter Umständen ins irdene Leben wieder herabfahren könnte, donnernd Gerechtigkeit stiftend, Kriege niederwerfend, als währte der jüngste Tag, das schließt die Überlieferung natürlich aus.

Ausgefallen bisweilen die Wünsche, die auf den vom Tode Auferstandenen niederprasseln und Komponisten die Feder geführt haben. Die Stimmen in Bachs »Magnificat« BWV 243, eins mit den Erlösungsbedürftigen, berichten von dem Auferstandenen, als spräche aus ihm der Umsturz: »Er stößt die Gewaltigen vom Thron hinab/ Und erhebt die Niedrigen./ Den Hungrigen gibt er Nahrung,/ Die Reichen lässt er leer ausgehen.« Alles Singsang natürlich, allenfalls Schleier ferner Morgenröte.

»Das Heilige ist zu allen Dingen nütze«, schreiben Marx und Engels in der »Heiligen Familie« (MEW 3, S. 295). Eine Schrift, worin die »modernen Psalmen« der Junghegelianer und jener hundertpro zur Wirtschaftsprosperität stehenden Ökonomen durch die Luft fliegen. Sei’s immer, wer nach droben hinfuhr, die beiden Geistesrecken holen das Gespinst auf die Erde zurück.

Engels, Max Stirners »Der Einzige und sein Eigentum« bespöttelnd, schreibt 1844 an Marx: »Gib acht, nächstens steht in der Uckermark ein neuer Messias auf, der Fourier nach Hegel zurechtschustert, das Phalanster aus den ewigen Kategorien konstruiert und es als ein ewiges Gesetz der zu sich kommenden Idee hinstellt, das Kapital, Talent und Arbeit zu bestimmten Teilen am Ertrage partizipieren. Das wird das Neue Testament der Hegelei werden, der alte Hegel wird Altes Testament, der ›Staat‹, das Gesetz, wird ein ›Zuchtmeister auf Christum‹, und das Phalanster, in dem die Abtritte nach logischer Notwendigkeit placiert werden, das wird der ›neue Himmel‹ und die ›neue Erde‹, das neue Jerusalem, das herab fährt vom Himmel, geschmückt wie eine Braut, wie das alles des breiteren in der neuen Apokalypse zu lesen sein wird.« (MEW 27, S. 13)

Gerade das pfäffische Hantieren mit der »Seele«, dem »Spirituellen« verlachen die Klassiker der Kapitalismusüberwindung, weil mit den Vokabeln so viel Unwesen getrieben wurde, die Menschen darüber niedrig, duldsam, unfröhlich, passiv, frömmelnd gehalten wurden. Der reale Humanismus habe in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus. Der setze an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das »Selbstbewusstsein« oder den »Geist« und lehre mit dem Evangelisten: »Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein nütze.« (MEW 2, S. 7)

Bei Bach hat beides gleichen Rang. Geist und Fleisch sind seiner Musik eingeschrieben, wie immer frömmelnd etwa Kantatentexte daherkommen, und gehören zusammen. Letzteres ganz offen in »Ich hatte viel Bekümmernis« BWV 21. Bach schrieb die Kantate als junger Mann. In »Komm, mein Jesu« duettieren Sopran und Bass wie zwei Jungverliebte im sonnenüberglänzten Feld. Sie biegen und wiegen sich und singen vor lauter Glück einander immerfort ja und nein zu.

Die Bande zwischen Individuum und Jesum auszugestalten, zu kollektivem Wohl, ist eine der Triebfedern in Bachs Vokalmusik. Tenor ist die Zwiesprache, das Mit- Gott-auf-Du-und-Du-Sein, der Dialog mit dem eingebildeten Himmel. Zuoberst steht die glückliche Verbindung: Der von drunten sucht sein Heil, indem er sich der Gegenliebe von droben versichert.

Aber es geht letztlich um mehr. Bachs Musik eröffnet eine ganze Welt, sie bringt das Leben näher, die Liebe schaut durch einen breiten Spalt, und der Tod hat darin sein lieblich-fahles Lied. Und wenn die Rufe der Liebe ertönen und die Höllenrufe verstummen, dann kann der Notschrei ihr Nachbar sein. Wer einmal die Bedrückungen im Leben, die Leiden der Liebe, die bittren Fragen nach Welt, Tod und Sterben, die Bach so unvergleichlich verbildlicht hat, wirklich mitzuempfinden versucht hat, der wird die Freuden und Kümmernisse seines eigenen Lebens besser verstehen.

Liebe. Sie wohnt in den Auferstehungsfantasien, die Arien kundtun, genauso wie in den todessehnsüchtigen Chorälen und Chören. »Jesus schläft, was soll ich hoffen«. Die Bach-Kantate BWV 81 gemahnt an die Katastrophe des Fehlens von Gott. Ein Abgrund sei dann, will die Musik suggerieren, ein gähnend Loch, eine Wüste, Hoffnungslosigkeit. »Seh ich nicht/ Mit erblasstem Angesicht/ Schon des Todes Abgrund offen?« Und der Tenor singt synchron mit der Gemeinde: »Herr, warum trittest du so ferne«. Bach hat den Dualismus von Gott und Teufel in seinem Vokalwerk reich ausgemalt. Oft geistert das ungreifbare, die Lieb und Freud quälende und vernichtende Ding durch seine Musik, als wäre es so selbstverständlich wie die Liebe zu Jesum.

Bisweilen geht es ganz dramatisch zu. Im Lukas-Evangelium sagt der ehrfürchtig Besungene: »Ich sah den Satan vom Himmel fallen als einen Blitz.« Das impliziert des Satans Sturz. Er soll herunterschießen, zerschellen. Also genau das Gegenbild zu Jesu Hinauffahrt als Erlösungsmetapher. Bach hat den Sturz in der Kantate »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende« BWV 27 ausgedrückt. Der zentrale Gedanke im Schlusschoral lautet »Welt, ade!!«

Der Theologe Paul Tillich teilt eine Geschichte mit, die mit der Auferstehungsgeschichte korrespondiert. Jene elendste Teufelei seit Menschengedenken ist ihr Hintergrund: Bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen erschien als Zeuge ein Mann, der eine Zeitlang in einem Grab eines jüdischen Friedhofs in Wilna gelebt hatte. Es war das einzige Versteck, wo er - und viele andere - leben konnten, nachdem sie der Gaskammer entronnen waren.

Während dieser Zeit schrieb er Gedichte, und eines davon war die Beschreibung einer Geburt. In einem Grab, ganz in seiner Nähe, gebar eine junge Frau einen Sohn. Der achtzigjährige Totengräber, in ein Leichentuch gehüllt, half bei der Geburt. Als das neugeborene Kind seinen ersten Schrei ausstieß, betete der alte Mann: »Großer Gott, hast du endlich den Messias zu uns gesandt? Denn wer anders als nur der Messias selbst könnte in einem Grab geboren werden?« Drei Tage später sah der Dichter, wie das Kind die Tränen seiner Mutter trank, weil sie ihm keine Milch geben konnte.

Die Sopran-Arie aus Bachs Kantate »Süßer Trost, mein Jesu kömmt« BWV 151 ist wohl die zärtlichste Arie, die Bach geschrieben hat. Kein helldunkles, verschlagenes Teufelsauge stiert nach dieser glockenreinen, unsagbar tröstlichen Musik. Sie endet nicht, bevor Herz und Seele zu Gott im Himmel blicken.

Wie Glück und Schmerz gehören Gottliebe und Teufelsverachtung bei Bach zusammen. »Satan ist der Geist der Traurigkeit«, sagt Luther, der so viele Widersacher hatte, dass er den Teufel besonders schwarz malte. Im Alter sang er ein gar grausam Teufelslied. Gegen seinen neuen Protestantismus hätten sich alle Kräfte der Gottlosigkeit und der Gottvergessenheit verschworen. Die Menschenseele sei stets in Gefahr, vom Satan bedrängt und gefressen zu werden. Darum: Der Teufel ist Feindbild so unverzichtbar wie Triebmoment.

Groß der Choral in der Mitte der Bach-Kantate »Ein feste Burg ist unser Gott« BWV 80. Teufel meint hier mehr als bloß den höllischen Satan, der alle Liebe auszutilgen sucht. Das machtvolle Werk entbehrt nicht eines revolutionäres Zugs. Protest erhebt sich wider die Fortschrittsfeinde, die Widersacher der Reformation.

Bisweilen versinnlicht Bach die Liebe zum Hochgefahrenen so edel und innig und zärtlich, dass ihr Zauber das »Fünklein in den Schwachen«, wie es in einem Choral heißt, wahrlich erhellt und erhebt. Derjenige, der fühlen und erleben kann, wird spüren, dass er nicht arm sein muss und schwach, um das, worauf die Kantate hinweist, zu erkennen.

Dazu bedürfte es wohl nur, hellhörig zu sein und sich in die Lage derer versetzen zu können, die im riesigen Hinterhof der Welt ihr Dasein fristen und keine Gelegenheit haben, jemals ein Werk von Bach zu hören. Das aber sind (und bleiben) die potenziellen Adressaten. Bachs Musik ist allgemeingültig, ihr Charakter ist universell, denn sie ist angefüllt mit Liebe.

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