Geschundene Ressource

»Rückeroberung des Öffentlichen« - eine Konferenz des Goethe-Instituts

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 7 Min.
»Augmented Reality« - »erweiterte Realität«: Der sogenannte reale Raum und der sogenannte virtuelle Raum sind heute vielfältig miteinander verwoben. Digitale Ausgabegeräte wie mobile und stationäre Displays, Lautsprecher und Telefone sowie die beständige informationelle Verknüpfung mit Daten jeder Art durchdringen längst fast jeden »Realraum«.

Der öffentliche Raum ist eine Ressource, für den Einzelnen, aber auch für ganze Gesellschaften. In den Zugangsbedingungen zu ihm - und komplementär in den Einschränkungen - drücken sich die Freiheitsgrade einer Gesellschaft aus. Wer regelt die Zugänge - und aufgrund welcher Befugnis? Als Eigentümer, als Verwalter, als Moderator?

An der Art, wie der öffentliche Raum »bespielt« wird, lässt sich auch der Zustand einer Gesellschaft ablesen. Ist er vermüllt und verwahrlost oder gepflegt? Wird er durch Zeichen des Protests markiert oder handelt es sich bei ihm lediglich um eine Arena der Werbung? Ist er zum Transitraum verkommen oder noch Aufenthaltsort? Fungiert er als Aufmarschraum oder ähnelt er gar jenem - romantisch überhöhten - Bild der Agora der einst nur männlichen Bürger? Wie schließlich verhält sich der ebenfalls mit Merkmalen des Öffentlichen versehene digitale Raum zum physischen Raum der Städte und Gemeinden?

Der aktuelle Zustand des öffentlichen Raums war Gegenstand der Jahreskonferenz des Goethe-Instituts Anfang dieser Woche in der Berliner Akademie der Künste. Angesichts der durch teils gegenläufige, teils sich wechselseitig verstärkende Tendenzen geprägten gegenwärtigen Situation - wie etwa der Privatisierung kommunaler Liegenschaften, der zunehmenden Reduktion öffentlicher Kommunikation auf puren Konsum und dem Rückzug in die physische Einsamkeit beim digitalen Kommunizieren, aber auch die Überlagerung des physischen Raumes durch die neuen Technologien und deren Möglichkeiten von Vernetzung und Austausch - stellt dies ein so notwendiges wie ambitioniertes Unterfangen dar.

Orte und Un-Orte

Der Ort war ebenfalls gut gewählt. Schließlich hatte man von der Dachterrasse des Gebäudes am Pariser Platz sowohl die Markierungen politischer Macht - Reichstagskuppel und Europafahne, aber auch die Botschaften der USA und Frankreichs - im Blick als auch einen öffentlichen Platz zu Füßen. Dessen Benutzbarkeit allerdings ist durch verschiedenste Sicherheitsinterventionen eingeschränkt. Tabuzone schlechthin ist die Fläche vor der US-Botschaft. Zur Unwirtlichkeit des Platzes trägt das Fehlen von Sitz- und Verweilgelegenheiten jeder Art bei. Sie resultieren aus Angst der Kommunen vor der Inbesitznahme öffentlicher Plätze durch Obdachlose. Stehen, Fotografieren und das Kaufen von Militariakram bei den fliegenden Händlern sind die einzigen Handlungsoptionen von Bürgern und Reisenden auf diesem zentralen Platz. Kein Vergleich zu den Menschen gemäßen Piazzen italienischer Renaissancestädte etwa. So lädt die muschelförmige Piazza del Campo in Siena durch ihre sanfte Neigung hin zum Zentrum nicht nur zum Sitzen, Lungern und Liegen ein. Sie wird von Touristen wie Einheimischen auch dazu genutzt. Schnell fliegen Scherz- und Begrüßungsworte von sich vorher nicht bekannten Gruppen herüber. Picknickutensilien werden ausgetauscht und manches Mal halbe Leben erzählt. Ein ähnlicher Kommunikationsapparat ist die Piazza vor dem kolossalen Dom von Orvieto. Eine lange Bank läuft die Fassaden der den Platz umschließenden Piazza entlang und kreiert so eine Arena der Begegnungen. Der Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor hingegen ist Transitort und abhakbarer Programmpunkt auf einer Liste der Sehenswürdigkeiten.

Sich ins Innere des Glaspalasts der Akademie zurückziehend - der mit seinen ausladenden Treppen eher wie der Empfangsbereich eines hochherrschaftlichen Schlosses und weniger wie ein Refugium zur Verfertigung von Ideen wirkt - durfte man unter dem Motto »Rückeroberung des Öffentlichen. Kultur im Spannungsfeld von öffentlichem und digitalem Raum« verblüfft eine weitgehend positive Perspektive der Veranstalter auf den geschundenen öffentlichen Raum beobachten.

»›Rückeroberung‹ legt nahe, dass man früher über den öffentlichen Raum verfügen konnte«, bemerkte mit sanfter Ironie der Publizist Wolfgang Kraushaar. Diese Stimme freilich verschwand im Getöse der Euphorie meist öffentlich bestallter älterer Herren (und einiger ähnlich abgesicherter Damen) über die Aneignungsformen des öffentlichen Raumes durch die Protagonisten der »Arabellion«. Diese Euphorie, so sympathisch sie zunächst erscheinen mag, stellte sich jedoch als wohlfeil heraus. Zwar wirken die Proteste etwa auf dem Kairoer Tahrirplatz dank medialer Übermittlung ganz nah und vertraut; sie sind doch aber weit weg genug vom eigenen Leben, um es einer ähnlich revolutionären Veränderung auszusetzen. Montagsdemonstrationen oder die Occupy-Bewegung, die Veränderungen in der eigenen Gesellschaft zum Ziel haben, wurden und werden auch vom Kulturestablishment dieses Landes weniger herzlich umschlungen.

Zum zweiten erwies sich die Euphorie als von falschen Voraussetzungen gespeist. Monika Grütters etwa, Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag, wiederholte die alte, falsche Mär, Facebook und Twitter hätten die Proteste und Revolutionen in Tunesien und Ägypten ausgelöst. Eher das Gegenteil ist der Fall. »Benutzt nicht Facebook, benutzt nicht Twitter«, hätten ägyptische Aktivisten in einem Handbuch zur Revolte notiert, lautete ein früher gegebener Hinweis der australischen Medienwissenschaftlerin (und Biografin von Wikileaks-Gründer Julian Assange), Suelette Dreyfuss. »Es war die Wahrheit, die ungefilterte Wahrheit, die die Revolutionen ausgelöst hat«, meinte sie vor zwei Jahren in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung«.

Informationelle Erregungszustände

Diese Wahrheit wurde über verschiedene Vermittlungswege transportiert. Die von Augenzeugen gemachten Bilder der Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi gelangten erst über die Nachrichtenplattform von Al Dschasira an die Weltöffentlichkeit. Sie wurden dann via Youtube verfügbar gehalten und erreichten über Computer, Mobiltelefone und auch so altmodische Medien wie Zeitungen die Bevölkerung. Ihre große Wirkung konnten sie aber nur entfalten, weil sie auf Resonanz in einer empörten Gesellschaft trafen. Diese Erregungszustände, die Nachrichten auslösen können, wenn sie aus dem Fernsehen als erstem Distributeur in Rückkopplungsschleifen mit digitalen und analogen Medien geraten, sind tatsächlich ein Novum unserer Gesellschaft. Sie charakterisieren auch zahlreiche jener Protestbewegungen, die der Publizist Florian Kessler in seinem Buch »Mut Bürger« vorstellte und auf die er bei dem Symposium verwies.

Auf einen »full circle« zwischen Intervention im Alltag, neuen digitalen Medien und alten Medien wie der Presse machte auch die ägyptische Künstlerin und Aktivistin Bahia Shehab aufmerksam. Sie schilderte in einem sehr lebendigen und leidenschaftlichen Vortrag, wie ihre Protestgraffitis in Kairo nicht nur wahrgenommen, sondern auch von anderen Künstlern vor Ort modifiziert, digital publiziert und erweitert und schließlich auch in Tageszeitungen abgedruckt wurden. Das Erscheinen in den alten Medien legte eine Deutung als Ritterschlag nahe. Das Echo auf diese Aktionen fiel freilich viel schwächer aus als jenes auf die Selbstverbrennung von Bouazizi. Das ist ein Hinweis auf die durch den Parameter Aufmerksamkeit gesteuerten Ebben und Fluten des Informationsstroms.

Immerhin machte Shebabs Vortrag klar, dass sogenannter realer Raum und sogenannter virtueller Raum vielfältig miteinander verknüpft sind. Angemessener als von einer Dualität dieser beiden Räume zu sprechen - wie es bei der Jahrestagung ärgerlicher Usus war -, wäre es, Modelle der Verknüpfung zu benutzen. Das Konzept der »Augmented Reality« (erweiterte Realität), erstmals bereits in den 80er Jahren in den Laboratorien von Xerox Parc und bei Boeing artikuliert und erprobt, hebt auf die Durchdringung des Realraums durch digitale Ausgabegeräte wie mobile und stationäre Displays, Lautsprecher und Telefone sowie die beständige informationelle Verknüpfung mit Daten jeder Art (Nachrichten, Statistiken, Lokalisationsdaten) ab.

»Veröffentlichter Raum«

Fruchtbar erscheint auch das Konzept des »veröffentlichten Raums«, das Stephan Doesinger u.a. in einem Merve-Bändchen publizierte. Es handelt sich hierbei um einen wahrgenommenen wie auch konstruierten Raum, der mit einer digitalen Informations- und Datenschicht überwölbt ist. Doesinger bezeichnet sie als »visuelle Kruste einer binären mathematischen Sprache«. Er trägt damit der Dualität aus dem sichtbaren und scheinbar fließenden Teil der digitalen Information und ihrer rein mathematisch-elektronisch-konstruktiven Grundlage Rechnung. Dies ermöglicht auch diverse kritische Ansätze an der Verfasstheit digitaler Werkzeuge - etwa zu den Such- und Positionierungsalgorithmen von Google, den technischen, finanziellen und rechtlichen Zugangsbedingungen zum Internet sowie der latenten Ausspähgefahr. Doesinger konzipiert den »veröffentlichten Raum« zudem als Intervall, in dem nicht Wahrheit/Lüge die Leitdifferenz sei, sondern aktuell/(noch) nicht (mehr) aktuell. Dieser Ansatz trägt der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie Rechnung. Diese Betrachtungen mögen pessimistisch stimmen, sie sind vor allem angemessen.

Rein pragmatisch schlägt Doesinger »Virtual Air Rights«, also eine Art Recht des öffentlichen Raums sowohl in seiner digitalen wie seiner realweltlichen Ausprägung, vor. Rechtehalter wären Kommunen, die damit den Ausverkauf der Daten (Geodaten, Google Streetview etc.) zumindest etwas begrenzen und der Umwandlung ihrer Bürger in schnöde Datenlieferanten für kommerzielle Anbieter einige Hindernisse in den Weg legen könnten. Eine »Rückeroberung des Öffentlichen« müsste auch diese Komponenten betreffen.

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