Straßenbahns Geige
Uwe Greßmann, der große Dichter der sagenhaften Geschöpfe, würde morgen 80. Hommage in Berliner Galerie
Elke Erb sah »reine und deutliche Güte«, Franz Fühmann einen »der bedeutendsten Dichter, die wir hervorgebracht haben, einen der ganz wenigen«. Karl Mickel fragte sich besorgt, wie »viel« des kargen Geldes am Monatsende noch für elementare Bedürfnisse blieb, wenn dieser Poet doch nur immer Bücher kaufe: »die Bedürfnisse seines Geistes waren seine elementaren: das war die Lösung«. Und Adolf Endler wählte zur Kennzeichnung des Dichters, »der aufs Größte zielte und für sich selbst auf Größe«, ein Wort aus der Goethe-Zeit: Uwe Greßmann sei ein »Originalgenie«. Für Günter Kunert war er ein Schriftsteller, »der die seelische Substanz besaß, die zu einem Spitzenplatz in der Hierarchie der Literatur berechtigt«. Und Richard Pietraß hat 1982 bei Reclam einen Sammelband zu Greßmann herausgegeben (»Lebenskünstler«), darin der schöne ihm nachgerufene Satz: »Unverändert geht er unter uns: erhobenen Hauptes; hinter ihm eine Wolke mantelaufgerührten Staubes.«
Uwe Greßmann hat Gedichte geschrieben, in denen die Welt noch einmal kurz daran glauben durfte, unschuldig zu werden oder wenigstens für die Dauer von ein paar Versen ein Bild zu sein, das man gern anschaut. »Von Glocken/ Läutet der Himmel/ Als wär die Kirche/ Gar das All selber.« Er schrieb Gedichte an die Entwicklung, an die Ewigkeit, an Arkadia, an die Luft, an den Raum, an die Erde, an die Zeit, er bedichtete Eimer und Weltseele, das Reich der Schatten, Seife, Zahnbürste und Handtuch: »Du hängst so an dem Nagel/ Als wäre das dein einziger Trost.« Kinderzeichnungen aus Worten, der Kosmos blickt auf den Kleingarten, der Kleingarten ist ein Kosmos, der Kosmos auch nur ein Kleingarten. Wort, das dem Menschen wie ein Tier zur Seite geht. Das Kreatur ist.
Ein Außenseiter, ein Tbc-kranker Mensch, die Krankheit nahm ihm das Leben erwartungsgemäß elend früh, es war der Oktober 1969 und er erst sechsunddreißig. Gestorben im Herbst - Herbst, der aus der »Wohnung des Waldes« kommt, »darin einst/ Tapeten der Hoffnung grünten«.
Er wusste beizeiten: Ihm würde aller Reichtum misslingen, aber nichts würde ihn mehr täuschen können. Wahrer Reichtum. Der Preis ist meistens: leiden. Greßmann blieb stets ein Umhergestoßener, von Pflegeltern ins Waisenhaus, von Heim zu Heim, von Krankenhaus zu Pflegestätte. »Schlimm, niemandes Kind zu sein und wie ein Anzug durch viele Hände zu gleiten.« So zitierte sein Herausgeber Holger J. Schubert den Dichter aus dessen autobiografischen Aufzeichnungen. Aber so viel Tapferkeit im Selbstbewusstsein! »Die Krankheit kam für mich wie eine Erlösung, die mir Kraft gab, mich zu finden.« Der Berliner HO-Bote, der Hegel las. Der Mensch mit dem straff nach hinten gekämmten langen Haar und dem weiten wehenden Mantel, daran frech die Kinder zupften. Der Dichter, der ein »Faust«-Stück schrieb, der auch Zeichner und Maler war - und der in einem Brief an Nelly Sachs schrieb, in jeder Poesie klinge Musik, und »sie singt nicht nur, sie sagt uns auch, was uns Raum und Zeit und Ewigkeit und Freud und Leid bedeuten können«.
Seine Lyrikbände tragen die Titel »Der Vogel Frühling«, »Das Sonnenauto« und »Sagenhafte Geschöpfe«, sie erschienen 1966, 1972 und 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle/ Saale, sind in schönes Leinen gebunden, und Horst Hussel schuf die Schutzumschläge. Nur den ersten Band erlebte Greßmann selbst. Im Jahre 1963 war im ND das Gedicht »Ständchen« erschienen, darin die Zeilen: »In den Kurven spielen/ Straßenbahnen Geigen«. Daraufhin ein Leserbrief: »Es gehören schon sehr starke Nerven dazu, das Gekreische der Straßenbahn an den Kurven als Geigenklänge zu bezeichnen … Ich weiß nicht, was sich der Schriftsteller für Vorstellungen gemacht hat, aber bestimmt nicht solche, die einen Arbeiter bewegen.«
Aber dieser Dichter, der im Kreischen der Straßenbahn die Geige hört, ist ein Erlebnis. Weil er die Dankbarkeit fürs Leben auch an quietschenden Stellen nicht aufgibt. Er erhebt sich über nichts, um sich behaupten zu wollen. Das nennt man wohl Liebesfähigkeit - die einen Einsamen beizeiten töten könnte, würde er von der Poesie nicht wiedergeliebt.
Dieser Dichter ist ein Sonderling, ja - aber doch großartig, wie da ein Mensch zwar im Alltag stolpert und am Leib erfährt, was so gar nicht zum Lachen ist, er aber zum Glück belustigt wird aus unendlicher Ferne, wo das Sagenhafte wohnt. Empfindung ist in diesen Gedichten das beste Selbstgemachte, das sich der Mensch zubereiten kann. Ohne fremde Rezeptur. Diener keiner Macht. Dazu muss man Intelligenz haben, aber gängige Schlauheit überwinden können. Man muss können, aber mehr noch: nichts anders wollen, als vollkommen unmittelbar zu sein. Um etwas zu begreifen von der Welt, achte man auf jene, die damit beschäftigt sind, nichts begreifen zu wollen. So gibt sich die Fülle der Bewandtnisse ihnen und uns hin. Stephan Hermlin nannte diese Dichtung »plebejisch«, Greßmann habe ihn »in Verlegenheit gebracht« - wie uns immer in Verlegenheit bringt, was über Jahre hin wirklich naiv geblieben ist.
Ein Vergessener? Zuletzt ist alles gleichgültig außer der Stärke, die ein Dichter beim Warten hat. Einer, der schrieb, und wenn's nur einer wäre, der liest: Das ist, was man Verbindung nennt. Und nie ist es bloß einer, der lesend weitergibt!
Am 1. Mai wäre der Dichter Uwe Greßmann, 1933 in Berlin geboren, 80 Jahre alt. Geigt, ihr Straßenbahnen, kurvend euer Ständchen!
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