Auf der Spur des Klassikers
Thomas Kuczynski, Statistiker, Ökonom und Publizist, im nd-Interview
Man kann sich nie sicher sein, ob Thomas Kuczynski seine Gegenüber gerade ein wenig auf die Schippe nimmt, oder mit dem freundlichsten Lächeln und wohlgesetzten Worten tüchtig einen einschenkt. Fest steht, er hat ein riesiges Reservoire an Witz. Fest steht ebenso: Er ist ein verdammt kluger Kopf, der das in ihm steckende Wissen aber nicht als Monstranz vor sich herträgt, sondern eher beiläufig und bisweilen fast verlegen einstreut.
Der heute 68-Jährige Statistiker und Ökonom hat schon im Elternhaus gelernt, sich argumentativ zu behaupten. Was, wer seinen Vater Jürgen Kuczynski kannte - einen der prominentesten und produktivsten Wissenschaftler der DDR, der seine Rolle als »treuer Rebell« bisweilen virtuos auslebte - , nicht immer leicht gewesen sein dürfte. Fast 20 Jahre hat Thomas Kuczynski am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet. Von 1988 bis 1991 war er dessen letzter Direktor. Jahre, die ob des Niedergangs der DDR wie auch dem danach einsetzenden westdeutschen Abwicklungseifer nicht vergnügungssteuerpflichtig waren.
Nach publizistischer Tätigkeit - unter anderem auch beim »neuen deutschland« - kehrte Thomas Kuczynski zur Wissenschaft zurück. Bekannt wurde insbesondere sein 1999 veröffentlichtes Gutachten »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ›Dritten Reich‹ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne«. Darin rechnete er der Bundesregierung vor, dass die Bundesrepublik den Opfern von Zwangsarbeit in Nazideutschland rund 180 Milliarden DM schuldig sei. Fünf Jahre später erhöhte er in seinem Buch »Brosamen vom Herrentisch«, diese Zahl auf 228 Milliarden DM - also 116 Milliarden Euro.
Nicht nur, weil Kuczynski 1972 über das Ende der Weltwirtschaftskrise 1932/33 promoviert hat, äußert er sich immer wieder zur gegenwärtigen Wirtschaftslage, insbesondere in der Vierteljahresschrift »lunapark21 - zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie«. Auch weil er dabei ist, eine Studienausgabe des »Kapital« zu erarbeiten - und damit anregen will, Marx wieder neu und vor allem gegen den Strich zu denken. Denn der Mann aus Trier, dessen Geburtstag sich an diesem Wochenende zum 195. Male jährt, hat ihn seit dem Studium an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst nicht mehr losgelassen.
Gabriele Oertel und Tom Strohschneider sprachen mit Thomas Kuczynski. Camay Sungu fotografierte.
Weiterlesen:
»Am besten Marx-Lektüre verbieten«
Thomas Kuczynski hält nichts von -ismen und bevorzugt den Begriff des Marxschen Denkens
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.