Atlas deutscher Schande
Der Fotograf Jan Schenck dokumentiert die Orte der Bücherverbrennung
Gedrungen steht der dunkle, steinerne Stumpf vor einer Silhouette von Plattenbauten. Ein gepflasterter Weg führt nass glänzend auf das unförmige Bauwerk zu. »Bismarckturm« heißt das Gemäuer auf der Räcknitzhöhe am Stadtrand von Dresden, das Spaziergänger wegen der malerischen Aussicht über das Elbtal mögen. Die Umgebung des Turms selbst dagegen ist alles andere als pittoresk: Kleingärten, Brachland, die Wand der Wohnhäuser. Eigentlich kein Motiv für ein Foto.
Und doch hat der Fotograf Jan Schenck, der in der Berliner Ostkreuzschule unter anderem bei Sybille Bergemann studierte, den Turm abgelichtet, ebenso wie die unauffällige Kreuzung mit dem zweistöckigen Mietshaus an der Breiten Straße in Pirna, in deren Erdgeschoss sich eine Apotheke befindet, oder den Park am Kaiser-Friedrich-Ufer in Hamburg, in dem neben einer Notrufsäule zwei Bänke stehen. Es sind banale Orte - und zugleich Orte deutscher Schande. Es sind Orte, an denen Nationalsozialisten 1933 Bücher verbrannten. Am 10. Mai, als Studenten im gesamten Reich in einer konzertierten Aktion »Wider den undeutschen Geist« vorgingen, oder, wie in Pirna, gelegentlich eines Überfalls auf einen Verlag, eine Redaktion, eine Bücherei.
Schenck, ein schlaksiger Mann Jahrgang 1981, ist ein Mensch, der Bücher liebt und sich kaum traut, sie wegzuwerfen. Dass sie einst systematisch vernichtet wurden, meist unter dem Beifall aufgeputschter Bürger, ist ihm eine unerträgliche Vorstellung. Das Kalkül war dabei nüchtern und perfide, sagt er: »Man zeigte, wer in die eigene Ideologie passt und wer nicht.« Zunächst fand Auslese auf Regalen statt. Später wurden mit gleicher Gründlichkeit Menschen ermordet.
80 Jahre später ist gut dokumentiert, wie die Aktion ablief; Schenck etwa nennt das »Buch der verbrannten Bücher«, ein Standardwerk von Volker Weidermann, als Anlass, sich eingehender mit dem Thema zu befassen. Kaum im Bewusstsein sind dagegen die konkreten Orte, an denen die Bücher in Brand gesteckt wurden. Auf dem Berliner Bebelplatz erinnert seit 1995 ein ins Pflaster eingelassener Kubus an eine der bekannteren Aktionen. An den wenigsten anderen Orten gibt es auch nur eine Gedenktafel. Manche lassen sich, weil seither etwa Straßennamen geändert wurden, nicht einmal mehr genau identifizieren.
Schenck will diese Lücke füllen und einen »Atlas der verbrannten Orte« erstellen, ein Archiv im Internet, das die Plätze der Bücherverbrennung ins visuelle Gedächtnis zurückholt. Bisher hat er mindestens 92 Örtlichkeiten in etwa 70 Städten ausfindig gemacht, von Bad Kreuznach bis Zwickau, von Flensburg bis Ulm. Sie alle sollen einmal in einer interaktiven Karte dargestellt werden: mit kurzen Texten, vor allem aber - schließlich ist Schenck ein Mann des Bildes - mit Fotografien: je ein 360-Grad-Panorama, dazu einige Detailaufnahmen.
In diesen Tagen wird eine erste, so genannte »Beta-Version«, freigeschaltet. Die Karte enthält zunächst Bilder aus acht Städten, in denen Schenck bereits mit der Kamera unterwegs war: Dresden, Pirna, Luckenwalde; Greifswald, Rostock und Schwerin, dazu Neustrelitz und Neubrandenburg. Für die Fahrten dorthin und die Programmierung der Internetseite reichte das Geld, das Schenck Anfang März in einer »Crowdfunding«-Aktion im Internet einwarb. 83 Menschen unterstützten das Vorhaben mit exakt 3385 Euro. Zu den Spendern gehörten neben vielen Einzelpersonen und Abgeordneten aller Bundestagsfraktionen die Junge Gemeinde in Greifswald oder Antifagruppen wie das Akubiz Pirna sowie, wie Schenck erfreut registrierte, auch etliche Bibliotheken. Inzwischen wirbt Schenck auf seiner eigenen Internetseite weiter um Unterstützung. Bis der Atlas komplett ist, sind schließlich noch viele Reisen nötig. Die Orte der einstigen Schande - sie finden sich überall in Deutschland.
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