Kaum Zusatznutzen, aber teurer
Innovationsreport: Neue Medikamente bringen selten therapeutischen Fortschritt
Die Pharmaindustrie ächzt gerne hörbar über die große finanzielle Last in Forschung und Produktentwicklung. Um so teurer lassen sich neue Medikamente auf den Markt bringen. Jedoch sind die Krankenkassen immer weniger bereit, jeden Preis zu zahlen. Für ihren Innovationsreport ließ die Techniker Krankenkasse (TK) jetzt 23 neue Arzneimittel aus den Jahren 2010 und 2011 auf Zusatznutzen und Kosten im Vergleich zu schon verfügbaren Therapien untersuchen. Anhand anonymisierter Routinedaten ihrer Versicherten wurde auch die Verschreibungspraxis der Ärzte dargestellt.
Für den Bericht wurden alle Neuzulassungen von 2010 sowie zwei von 2011 unter die Lupe genommen. Bewusst betrachtete man damit Medikamente mit einer Markteinführung vor dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), um später die Folgen dieses Gesetzes abbilden zu können. Mit dem AMNOG sind frühe Nutzenbewertungen für neue Mittel verbindlich und Grundlage für Preisverhandlungen.
Unter den Innovationen 2010 sind Medikamente für Herzkranke oder Krebspatienten, aber auch sieben sogenannte »Orphan Drugs« zur Behandlung seltener Krankheiten. Velaglucerase alfa, eines der Mittel aus der letztgenannten Gruppe, das bei der Speicherkrankheit Morbus Gaucher eingesetzt wird, erreichte mit 338 444 Euro im Jahr 2011 den höchsten Pro-Kopf-Bruttoumsatz. Es wurde jedoch nur sieben TK-Versicherten verschrieben. Trotz des hohen Preises liegt das Mittel immer noch günstiger als die bisherige Alternative, zeigt aber schwere unerwünschte Nebenwirkungen häufiger als diese.
Unter dem Strich bleibt bei den untersuchten Medikamenten der therapeutische Fortschritt häufig aus: 15 von ihnen haben - verglichen mit bestehenden Therapien - keinen relevanten Zusatznutzen für die Patienten, sechs bringen Teilverbesserungen. Gerd Glaeske, Pharmazeut an der Universität Bremen und Mitautor der Untersuchung, spricht hier von »kommerziellen Innovationen«, hält aber die eigentliche Innovationskrise der Pharmaindustrie noch nicht für ausgestanden.
In den ersten Monaten nach Markteintritt kam es bei einigen Mitteln vermehrt zu Meldungen über Risiken, die offenbar erst bei breiter Anwendung zu Tage treten. Für zwei Substanzen wurden »Rote-Hand-Briefe« mit Hinweisen dazu veröffentlicht. Für Glaeske ein weiteres Argument, dass auch Spätbewertungen für bereits eingeführte Mittel sinnvoll sind, was die Hersteller bestreiten.
Auffällig sind regionale Unterschiede bei der Verschreibung: Besonders eifrig wurden neu zugelassene Mittel in den neuen Bundesländern und im Saarland verordnet. Vermutungen über die Ursachen gehen in zwei Richtungen: Die Ärzte im Osten, mit geringen Abstrichen in Brandenburg und Berlin, sind möglicherweise den Überredungskünsten der Pharmavertreter eher erlegen. Das Saarland könnte sich am französischen Nachbarn orientieren - dort werden pro Kopf 1400 Tagesdosen an Medikamenten verkauft. Das ist EU-Spitze, während Deutschland mit knapp 1100 Tagesdosen im Mittelfeld liegt.
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