Lafontaine auf türkisch
Tausende Mitglieder der Migrantenorganisation DIDF trafen sich in Essen
Dass junge Menschen bei öffentlichen Veranstaltungen Bert Brechts Gedicht von den Fragen eines lesenden Arbeiters vortragen, kommt im tiefen Westen Deutschlands selten vor. In der Essener Gruga-Halle war es am Samstag gleich zweimal zu hören. Die Bundesvorsitzende der Migrantenorganisation DIDF Özlem Alev Demirel trug es auf türkisch und auf deutsch vor. »Es ist unsere Arbeit, die Werte schafft«, sagte die 29-Jährige beim »Fest der Arbeit« von DIDF und zog so die Linie von Brecht zur aktuellen Krise in Europa: »Ursache der Krise ist die Profitgier einiger weniger.«
Bert Brecht ist unter den jüngeren Mitgliedern von DIDF sehr populär. Die Abkürzung steht für »Föderation Demokratischer Arbeitervereine«. Vertreter türkischer und kurdischer Arbeiter- und Jugendvereine haben die Organisation 1980 ins Leben gerufen, dem Jahr des Militärputsches in der Türkei. Heute hat DIDF 35 Mitgliedsvereine in deutschen Großstädten. Vor allem in Nordrhein-Westfalen ist DIDF stark vertreten. Die Vorsitzende Demirel saß bis zu den Neuwahlen 2012 für die Linkspartei im Düsseldorfer Landtag.
Das alle zwei Jahre stattfindende »Fest der Arbeit« von DIDF ist eine Mischung aus mitunter folkloristisch angehauchtem Kulturprogramm und politischer Veranstaltung. Die Organisatoren haben der Veranstaltung den Leitgedanken »Im 20. Jahr von Solingen und Sivas: Für Solidarität und Frieden« gegeben. Zwischen den Brandanschlägen 1993 im rheinischen Solingen und im türkischen Sivas lagen nur wenige Wochen.
In Solingen starben fünf junge Frauen, im zentralanatolischen Sivas nach der tagelangen Belagerung eines Hotels durch einen islamistischen Mob 37 Menschen, unter ihnen viele Aleviten und Linke. »Wir wollen mit der Verbindung zeigen, dass Rassismus und Faschismus überall auf der Welt menschenfeindlich und keine Meinung, sondern ein Verbrechen sind«, sagte Demirel.
Mit rund 5000 Besuchern sind weniger in die Essener Gruga-Halle gekommen als erwartet. Viele angemeldete Gäste haben stattdessen an den spontanen Kundgebungen in deutschen Städten gegen die aktuellen Polizeiübergriffe in der Türkei teilgenommen, erklärte Demirel. »Wir verurteilen die brutale Polizeigewalt gegen Menschen, deren einziges Verbrechen darin liegt, ihre Stadt vor Profitsucht der Herrschenden zu schützen«, heißt es in einer Erklärung von DIDF. Das sieht auch der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Frank Bsirske so. »Das war ein Polizeieinsatz im Interesse der Boden- und Grundstücksspekulanten«, sagte er in Essen. DIDF sei Teil einer demokratischen Bewegung in Deutschland, die sich für die gleichen politischen Rechte, kostenlose Bildung und Gleichberechtigung von Deutschen und Migranten in allen politischen Bereichen einsetze, würdigte Bsirske die Arbeit der Organisation. »In diesem Kampf stehen wir fest an Eurer Seite.« Im kommenden Bundestagswahlkampf will ver.di die Forderung nach dem Wahlrecht für alle, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, zum Schwerpunkt der eigenen Aktionen machen, kündigte er an.
Auch DIDF wird sich in den Wahlkampf einmischen. Am 12. Juni werden die Vorsitzende Demirel und andere nach einem Gespräch mit Linkspartei-Chef Bernd Riexinger bekannt geben, ob und für welche Partei DIDF eine Wahlempfehlung ausspricht. Angesichts der großen inhaltlichen Übereinstimmung beim Kampf gegen Krieg, prekäre Beschäftigung und Hartz IV sei ihre Präferenz für die Linkspartei klar, sagte die DIDF-Vorsitzende dem nd.
Für die Linkspartei war Mitbegründer Oskar Lafontaine nach Essen gekommen. »Ungerechtigkeit ist der Nährboden für Rassismus und Faschismus«, sagte er. »Deshalb fordern wir soziale Gerechtigkeit für ganz Europa.« Lafontaine verabschiedete sich mit dem berühmten Zitat des türkischen Dichters Nazim Hikmet, das von der Sehnsucht nach einem Leben so frei wie ein Baum und so brüderlich wie ein Wald erzählt - auf türkisch.
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