Wörter und Märchen
Expedition Grimm: Kassel feiert die Brüder mit einer Ausstellung
Der Anstoß kam von Clemens Brentano. Märchen sollten sie finden, Geschichten aus alter Zeit, immer nur mündlich weitergegeben, nie aufgespürt und gebündelt, nie gedruckt. Warum nicht auch Märchen ins Buch bringen, wie es Achim von Arnim und Brentano mit den Volksliedern der Sammlung »Des Knaben Wunderhorn« vorgemacht hatten? Angetan von der Idee, machten sich Jacob (geboren 1785) und Wilhelm Grimm (geboren 1786) an die Arbeit. Sie durchforsteten Folianten und Anthologien und sahen sich nach geeigneten Helfern um. Später glaubte man, weil sie den Schluss nahelegten, sie seien selber losgezogen, um in Schenken, Spinnstuben und Bauernhäusern nach Märchen zu fahnden. In Wahrheit saßen sie meist in ihrer Bücherklause, sichteten und bearbeiteten, was ihnen andere, Frauen zumeist, ins Haus getragen hatten. Ende 1812 lagen die ersten hundert Märchen vor, sprachlich noch weit entfernt von der späteren Farbigkeit und dem unverkennbaren, einheitlichen Ton, für den Wilhelm gesorgt hatte, zudem nüchtern, mit wissenschaftlichen Anmerkungen und ohne Illustrationen präsentiert. Ein weiterer Band, der noch einmal siebzig Texte brachte, erschien 1815, und erst die zweibändige Ausgabe von 1819 erhielt von Ludwig Emil Grimm, dem jüngeren Bruder, radierte Titelblätter und auch ein Porträt der alten Dorothea Viehmann, der »Märchenfrau«, die seitdem für sämtliche (von den Grimms nie genannte) Beiträger steht.
Die Erstveröffentlichung der Kinder- und Hausmärchen Ende 1812, der Beginn der Arbeit am Wörterbuch vor 175 Jahren, im Oktober 1838, sowie der 150. Todestag Ludwig Grimms beschert uns jetzt ein Grimm-Jahr mit Publikationen, Ausstellungen, Märchen-Festspielen und der üppig bestückten, digital untermauerten Hessischen Landesschau »Expedition Grimm«, die bis in den September die Kasseler documenta-Halle dominiert. Geboten wird hier viel. Man kann herumschlendern und die Welt der Grimms allmählich erkunden. Von ihr hat sich zum Glück eine Menge erhalten, sogar aus den ganz frühen Tagen, so ein Blatt mit Naturstudien, ein Lehrbuch für Schönschrift, eine Kinderzeichnung von Jacob und Wilhelm, die die Hinrichtung Ludwig XVI. zeigt, oder ein Brief des achtjährigen Jacob, der die Erschütterung über die Ermordung des französischen Königs schildert.
Sie kamen aus dem Haus eines Amtmanns bei Hanau, der früh starb und eine Frau mit kleiner Pension hinterließ, zu wenig, um leben zu können, zu viel, um zugrunde zu gehen. Sie waren neun Kinder, von denen sechs am Leben blieben, Jacob und Wilhelm die Ältesten. Sie kamen zur Schwester der Mutter nach Kassel, wo sie die Schule besuchten. Später gingen sie nach Marburg, um Jura zu studieren. Sie waren mittellos, aber sie schlugen sich durch. Das Glück kam dann doch noch. Sie begegneten einem jungen Mann, dem Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny, der war schon Professor und außerdem Besitzer einer großen Bibliothek. Da war sie, die Wörterwelt, die sie begeisterte und in der sie heimisch werden sollten, und als sie noch Achim von Arnim und Clemens Brentano kennenlernten, war auch die Berufung gefunden.
Jacob und Wilhelm lebten nach dem Studium wieder in Kassel. Ihre Wohnungen sind verschwunden, zerstört im Zweiten Weltkrieg, aber die Ausstellung schafft es, wenigstens die Räume am Wilhelmshöher Tor virtuell wieder sichtbar zu machen. Hier entstanden zwischen 1814 und 1822 die beiden Bände mit den »Deutschen Sagen«, der erste Teil der »Deutschen Grammatik« und 1819 auch die bearbeitete, veränderte und maßgebliche Ausgabe der Märchen, Grundlage für alle späteren Editionen. Wilhelm hat den Grundriss der Wohnung in einer Skizze festgehalten, die zwar keine exakten Maße angibt, dafür aber neben angedeutetem Mobiliar alle Tapetenfarben verzeichnet. Im Untergeschoss der Halle, wo das Publikum zum Mitmachen animiert wird und dabei auch am Grimmschen Wörterbuch weiterarbeiten kann, ist eine begehbare 3D-Installation geschaffen worden. Auf dem Boden befindet sich der Lageplan der Wohnung, die man von Raum zu Raum durchstreifen kann. Auf einem großen Monitor erscheint dabei das Zimmer, in dem man sich gerade aufhält.
Das Leben der Grimms, ziemlich ereignisarm, ist über weite Strecken, wie auch diese Exposition veranschaulicht, am Schreibtisch geführt worden. Doch dann, 1837, der dramatische Einschnitt. Ernst August II., Hannovers neuer König, setzte eigenmächtig die Verfassung außer Kraft und erntete einen Sturm, mit dem er nicht gerechnet hatte. »es gibt noch männer«, erklärte Jacob Grimm, »die auch der gewalt gegenüber ein gewissen haben.« Die »Göttinger Sieben«, mutige Professoren, widersetzten sich dem Willkürakt. Auch die Grimms protestierten. Jacob musste daraufhin die Universität verlassen und wurde des Landes verwiesen. Bettine von Arnim war es durch ihre energische Intervention beim preußischen Thronfolger zu danken, dass die Brüder an die Berliner Universität berufen wurden. Später, nach dem enttäuschenden Ausgang der Revolution von 1848, saßen sie wieder in ihrer Studierstube, beschäftigt vor allem mit dem »Deutschen Wörterbuch«, dessen erster Band 1854 fertig war. Wilhelm starb 1859, als man den Buchstaben D erreicht hatte, Jacob schaffte es noch bis zum Wort »Frucht«. Er starb 1863 wenige Monate nach seinem Malerbruder Ludwig, der bislang immer ein bisschen im Schatten stand und den man in der Kasseler Ausstellung endlich näher kennenlernen kann.
Bestechend und attraktiv der großformatige Katalog dieser aufwendig gestalteten Ausstellung, erschienen im Dresdner Sandstein-Verlag, eine übersichtliche Lebens- und Werkgeschichte der Grimms, reich bebildert und dokumentiert und mit über zehn Aufsätzen zu Einzelthemen untermauert. Auch wer nicht nach Kassel kommt, hat hier das grundlegende und eindrucksvollste Buch, das uns zum Grimm-Jubiläum geschenkt wird.
»Expedition Grimm«: Bis zum 8. September in der documenta-Halle in Kassel. Katalog im Sandstein Verlag, 280 Seiten, Klappenbroschur, 25 Euro.
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