Europa braucht eine bürgerschaftliche Revolution
Michael Aggelidis über die Eurodebatte der Linken, die Folgen des Krisenregimes und einen wirklichen Neustart der EU
Die Krise der Europäischen Union spitzt sich zu. Die ökonomisch schwächeren Länder zahlen einen bitteren Preis für die Politik der Troika aus Europäischer Union (EU), Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF). Immer mehr Menschen werden ins Elend gestürzt, ganze Volkswirtschaften abgewürgt und grundlegende demokratische Rechte außer Kraft gesetzt. Griechenland ist das spektakulärste Beispiel. Die europäische Idee wird damit diskreditiert.
Die Auslandsschulden Griechenlands nehmen um 1500 Euro pro Sekunde (!) zu. Die Verschuldungsquote liegt bei 180 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 67 Prozent, 27 Prozent der Erwerbsfähigen sind arbeitslos. Die ‚kleine Troika‘, so nennen viele GriechInnen die amtierende Regierung, regiert mit Notstandsdekreten. Das Streikrecht ist in vielen Bereichen de facto abgeschafft.
Viele verlassen das Land, in der akuten Krise 120.000 AkademikerInnen, mit steigender Tendenz. In den letzten Jahren wanderten Hunderttausende aus Süd- und Osteuropa in die Bundesrepublik aus, alleine 2011 waren es 500.000, 2012 schon 600.000 Menschen.
Ein Medizinstudent, der in Griechenland studiert, kostet den griechischen Staat ca. 85.000 Euro. Da aber das griechische Gesundheitssystem zusammenbricht und vier von zehn Ärzten arbeitslos sind, finden die angehenden Mediziner keine Arbeit und gehen ins Ausland. Deutschland spart sich die Ausbildungskosten und kann die gut ausgebildeten Fachkräfte beschäftigen. Dass bei so viel Einwanderung auch noch der Druck auf die Löhne und Gehälter steigt, passt dem bundesdeutschen Kapital natürlich in den Kram.
Griechenland werden brutale Austeritätsprogramme aufgezwungen. Die Bevölkerung hatte keine Wahl, denn griechischen Regierungen wird das Recht vorenthalten, frei über den Staatshaushalt zu entscheiden. Das führte unter anderem zur Senkung von Gehältern im öffentlichen Dienst, der Löhne in der privaten Wirtschaft und zur Streichung von Hunderttausenden Stellen im öffentlichen Dienst.
Griechenland hat jetzt – auf die Bevölkerungszahl gerechnet – nur noch zwei Drittel der Mitarbeiter im Steuersektor wie Frankreich. Dass das so wenig wie die Privatisierungsorgien zur Erhöhung von Steuereinnahmen führt, dürfte einleuchten. Diese gehen vielmehr weiter zurück.
Diese Politik wird vor allem in Berlin konzipiert: Der Einfluss Merkels und der deutschen Bundesregierung ist dafür entscheidend. Breiter Widerstand und die zunehmende weltweite Isolierung ihres Konzepts haben immerhin dazu geführt, dass Angela Merkel Wettbewerbspakt zumindest verzögert wurde. Außerdem wurde mit dem jüngsten EU-Beschluss zur Verlängerung der Fristen für die Haushaltskonsolidierung für Frankreich und Spanien erstes Wasser in den deutschen Merkel-Wein gegossen.
Die Partei DIE LINKE hat Alternativen vorgelegt zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, sie tritt für eine europaweite gerechte Steuerpolitik ein, die die hohen und höchsten Einkommen belastet, die Großkonzerne und Geschäftsbanken zur Kasse bittet. Wir LINKEN wollen auch eine neue Debatte über die Vergesellschaftung der großen Konzerne – angefangen mit den Energiekonzernen und den privaten Geschäftsbanken.
Vergesellschaftung bedeutet nicht die Schaffung von bürokratischen Monstern, wenn demokratische Kontrolle und demokratische Selbstverwaltung eingeführt werden. Ziel ist, dass die Gesellschaft für alle Wirtschaftstätigkeiten, die die Geschicke von Millionen entscheidend prägen, die Verantwortung und die Entscheidungsbefugnis zurückgewinnt. Deshalb brauchen wir auch ein öffentlich-rechtliches Bankensystem, das nach dem Vorbild der Sparkassen dem Gemeingut verpflichtet ist.
Wir brauchen aber auch ein anderes Europa, ein Europa der Solidarität, der ökologischen Verantwortlichkeit und des Friedens. Hierzu gibt es im Entwurf unseres Wahlprogramms für die Bundestagswahlen eine ganze Reihe von richtigen Überlegungen. Die undemokratischen Vertragsgrundlagen von Lissabon werden zu Recht für untauglich erklärt. Andererseits gibt es Formulierungen, die auf eine Reform der EU hinauslaufen, etwa durch höhere Kompetenzen des Europäischen Parlaments (EP).
Das halte ich nicht für konsequent. Diese EU war von vornherein ein Projekt im Interesse des Kapitals. Die Bevölkerungen der europäischen Länder hatten nie das Recht, über die verfassungsmäßigen Grundlagen abzustimmen. Das »Demokratiedefizit« der EU ist legendär. Das Übergewicht der Regierungen der reichsten europäischen Länder samt der Eurokratie und des Lobbyismus des Großkapitals ist erdrückend. Der Lissaboner Verfassungsvertrag verpflichtet Europa auf neoliberale Dogmen und lässt nicht einmal Kapitalverkehrskontrollen zu.
Darum bin ich als Alternative zur EU und ihren Institutionen für einen politischen Neustart Europas, für Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung, womit wenigstens den Normen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie Genüge getan würde.
Das könnte auch eine einendes positives Ziel für die Millionen Menschen werden, die bislang schon gegen die Politik der Troika und ihre verheerenden Auswirkungen demonstriert und gestreikt haben. Da sich diese Millionen noch nicht wieder für die Losung »Sozialismus« oder »sozialistische Demokratie« mobilisieren lassen, brauchen wir Übergangslosungen nicht nur zur Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbußen, zum Mindestlohn und zu europaweiten menschenwürdigen Sozialstandards, sondern auch auf der politischen Ebene.
Die verfassungsmäßigen Grundlagen der neuen politischen Union Europas bedürfen einer ausführlichen öffentlichen Debatte. DIE LINKE wird in dieser Debatte für eine partizipative Demokratie, für solidarisch geprägte Grundwerte und für Verfassungsziele der sozialen Gerechtigkeit und des Ausgleichs der wirtschaftlichen Ungleichgewichte eintreten.
Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine haben das Verdienst, in der LINKEN eine Debatte über den Euro ausgelöst zu haben. Zweierlei ist dabei klar geworden: Erstens ist die Verteidigung der Lebensverhältnisse der großen Mehrheit der Menschen in Europa das Maß aller Dinge und nicht eine abstrakte Verteidigung des Euro. Zweitens erhöht die bisherige Troika-Politik die Wahrscheinlichkeit, dass südeuropäische Länder sich dazu gedrängt sehen, den Euro als Akt der Notwehr zu verlassen.
Niemand bestreitet aber, auch nicht Heiner Flassbeck, dass ein geordneter Austritt der Südländer mit enormen Risiken verbunden wäre. Doch verlieren können nicht nur die Südländer. Auch für Kerneuropa und Deutschland birgt ein chaotischer Zerfall der Euro-Zone enorme Risiken. Das ist ein Pfund, mit dem Druck auf Deutschland ausgeübt werden kann.
Die klügeren Köpfe des Neoliberalismus, wie Hans-Werner Sinn, plädieren daher schon seit längerem für massive Unterstützungszahlungen für austrittswillige Südländer. Bisher hat sich Syriza für den Verbleib in der Euro-Zone ausgesprochen. Doch Alexis Tsipras hat zu Recht klargestellt, dass es ohne ein Nachgeben Deutschlands zum Bruch der Euro-Zone kommen werde. Der ehemalige Syriza-Vorsitzende Aleksos Alavanos plädiert gar offensiv für den Austritt. Die ebenfalls von Tsipras ins Gespräch gebrachte »Euro-Zone der zwei Geschwindigkeiten« hat zudem eine gewisse Ähnlichkeit mit dem alten Konzept des EWS mit flexiblen Wechselkursen innerhalb von gewissen Bandbreiten.
Was wir brauchen ist eine vorurteilsfreie Debatte in der Linken in ganz Europa über die richtigen Alternativen, falls der deutsche Weg in den Abgrund fortgesetzt wird. Wenn wir die Krisenanalyse der kritischen Ökonomen Flassbeck, Bofinger oder Horn ernst nehmen, dann müsste eine Konvergenz der Lohnstückkosten zwischen Deutschland und Südeuropa (bezogen auf die ersten Jahre der Währungsunion) erreicht werden. Soll dies bis 2022 gelingen, dann müssten nach Berechnungen von Heiner Flassbeck die Löhne in Deutschland um nominal 4,7 Prozent jährlich steigen. In Südeuropa wären nominale Erhöhungen von 2,3 Prozent damit vereinbar. Ein Blick auf den Tarifabschluss der IG Metall für 2013 und 2014 in Höhe von ca. 2,5 Prozent jährlich zeigt, dass es keinen Kurswechsel geben wird.
Ein europäischer Finanzausgleich würde ein sehr großes Umverteilungsvolumen mit sich bringen. Berechnungen für die USA zeigen ein Umverteilungsvolumen (Steuer- und Sozialversicherungstransfers) zwischen 2 Prozent und 4 Prozent der Geber-Bundesstaaten. Auf Deutschland umgerechnet wären dies jährlich zwischen 50 und 100 Milliarden Euro! Darum ist das politisch so schwer durchsetzbar. Dessen muss man sich bewusst sein.
Neoklassische Ökonomen sprechen gerne von einem »first best« und einem »second best«. Mein »first best« ist ein Euro mit allen bisherigen Partnerländern. Voraussetzung hierfür wäre aber ein Ende der Austeritätspolitik, überproportionale Lohnsteigerungen in Deutschland in den nächsten zehn Jahren und der Einstieg in ein europäisches Finanzausgleichssystem, insbesondere bei den Sozialversicherungen, um externe Schocks abzufedern. Wir sollten den Kampf dafür gemeinsam mit den Menschen im Süden führen. Aber wir sollten gleichzeitig deutlich machen, dass der Euro ohne Kurswechsel ein Auslaufmodell ist. Europa scheitert, wenn die Menschen sich von diesem unsozialen Europa abwenden und keine Alternative dazu aufbauen können. Europa scheitert nicht, wenn oder weil der Euro scheitert. Das ist ein neoliberales Ammenmärchen.
Wir LINKEN waren gegen die Einführung des Euro. Die gemeinsame Währung ist eine Fehlkonstruktion ohne gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik, ohne Mechanismen des Ausgleichs ähnlich dem Länderfinanzausgleich wie in Deutschland, ohne gemeinsame Steuerpolitik und ohne gemeinsame soziale Mindeststandards.
Den wirtschaftlich schwächeren Ländern ist die Möglichkeit benommen, sich wie früher zum Beispiel durch Abwertung einer eigenen Währung gegen ein steigendes Handelsbilanzdefizit zu wehren. Wenn sie, um die Not ihrer Bevölkerung zu lindern, wieder eigene Währungen einführen wollen, dann sollten wir mit ihnen solidarisch sein.
Dennoch sollten wir Linken in Deutschland nicht den Ausstieg aus dem Euro als generelle Lösung propagieren. Wenn solche Vorschläge aus Deutschland kommen, dann klingt das nach einem wohlhabenden Kerneuropa, das die wirtschaftlich Schwächeren vor die Tür setzt. Der Rückzug aufs Nationale passt zudem nicht zu unseren internationalistischen Überzeugungen.
Deshalb bin ich dafür, die europäische Idee, die von der bürgerlichen Politik auf den Hund gebracht wird, links zu besetzen. Entscheidend ist die Teilnahme der Linken an den Protesten von unten, immer mit dem Bestreben, möglichst breite europaweite Mobilisierungen zu erreichen, die neben der Ablehnung der Troika-Politik positiv gemeinsame Forderungen und Ziele formuliert – bis hin zur politisch-institutionellen Ebene. Bis hin zu einer regelrechten bürgerschaftlichen Revolution, die zu einem demokratischen politischen Neustart Europas führt.
Michael Aggelidis vom Kreisverband der LINKEN in Bonn war von Mai 2010 bis Mai 2012 wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der LINKEN im Landtag von NRW und ist führendes Mitglied von Syriza Deutschland.
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