Von der Unausweichlichkeit des Todes
Christian Boltanski - Bewegt im Kunstmuseum Wolfsburg
Voilà c’est la solution pour Wolfsburg!« (Das ist die Lösung für Wolfsburg!) Mit diesen Worten und freudestrahlend hatte Christian Boltanski in seinem Wohnort Paris Museumsdirektor Markus Brüderlin im Vorfeld der Wolfsburger Ausstellung das Stoffmuster eines hauchdünnen und lichtdurchlässigen Textils präsentiert. Hierauf ließ er 190 schwarz-weiße, anonyme Porträtfotos für seine neue Installation »Geist(er)« drucken. Die monumentale Arbeit hat der französische Konzeptkünstler eigens für Wolfsburg entworfen, passgenau auf die große zentrale Oberlichthalle des Museums zugeschnitten. Ästhetisch besticht die Arbeit durch die ausgewogene und klare Komposition und eine ätherische Leichtigkeit, mit der Boltanski der Schwere des Themas Vergänglichkeit - die eigene und die universale - mit Gelassenheit begegnet. Die großen Stoffdrucke sind in gleichmäßigen Abständen zweireihig an Fäden in unterschiedlicher Höhe aufgehängt. Langsam ziehen einige mithilfe eines Transportsystems, das in Linien und Kurven unterhalb der Decke montiert ist, in ununterbrochener Bahn durch den Raum. Fast geräuschlos schweben die »Fahnen« mit den vergrößerten und dadurch unscharfen Konterfeis anonymer Personen umher.
Entnommen hat Boltanski sie dem Bildfundus seiner Installation »Menschlich« von 1994, die sich in der Sammlung des Museums befindet und ebenfalls Bestandteil der Ausstellung ist. In einem abgedunkelten Raumkubus innerhalb der großen Halle reihen sich 1200 quadratisch gerahmte Fotografien mit anonymen Porträts als strenges Raster aneinander. In diesem grabähnlichen, bedrückenden Schrein der Erinnerung hat Boltanski Fotografien zusammengeführt, die in verschiedenen Porträtinstallationen zwischen 1970 und 1994 zum Einsatz kamen. Die Fotos der Namenlosen selbst stammen aus privaten Fotoalben aus aufgelösten Haushaltsnachlässen, die man damals noch haufenweise auf Flohmärkten finden konnte, und aus Polizeiarchiven. Angesichts der hier abgelichteten Menschen verschiedener Generationen, Geschlechter und sozialer Herkunft stellt sich vor allem die Frage nach der Täter- oder Opferrolle und generell nach bleibenden Spuren eines jeden gelebten Lebens.
Boltanski kam 1944 kurz nach dem Ende der deutschen Besatzung im befreiten Paris als Sohn eines ukrainischen jüdischen Vaters und einer korsischen Mutter zur Welt. Seine Kindheitserinnerungen sind daher geprägt durch die Folgen der deutschen Naziherrschaft und des Holocaust. In seinen frühen Arbeiten spielte die Spurensicherung zur Nachforschung und Darstellung der eigenen Existenz eine große Rolle. Die »Geist(er)« vermitteln nun den vorwärts gerichteten Blick des 68-Jährigen auf den unweigerlich nahenden eigenen Tod und gleichen einem symbolischen Akt der Seelenbefreiung.
Auch die übrigen Arbeiten in der Ausstellung thematisieren seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Dass Boltanski nach seinem Tode dem Vergessen anheimfällt, ist indes so gut wie ausgeschlossen. Er ist längst in die Kunstgeschichte eingegangen. Seine Arbeiten wurden und werden weltweit ausgestellt und viele sind in öffentliche Sammlungen eingegangen. Boltanski hat mehrfach an der documenta und Biennale von Venedig teilgenommen und wurde unter anderem mit dem Aachener Kunstpreis, dem Goslarer Kaiserring und dem Premium Imperiale ausgezeichnet.
Auf der Stirnwandseite der Empore in der großen Halle, direkt über dem Raum der Installation »Menschlich«, hängt unscheinbar und großspurig zugleich eine fünf Meter lange LED-Installation, die am Tag der Pressekonferenz irgendwann die zehnstellige Zahl 2161044279 in rot leuchtenden Ziffern angezeigt hat. Schon in der nächsten Sekunde stand an letzter Stelle eine 0, denn bei dieser Arbeit mit dem Titel »Die letzte Sekunde« (2012) handelt es sich um ein Zählwerk der Lebenszeit des Künstlers, die im Sekundentakt aktualisiert wird. Stirbt Boltanski, wird die Zeit angehalten. Eine persönliche digitale Lebensuhr besonderer Art, denn das Zählwerk gelebter, aber auch unwiderruflich verrinnender Lebenszeit ist ein »Countdown to Death« … Man mag das als makaber oder vielleicht sogar angsteinflößend empfinden, doch bezeugt die Vanitas-Installation auch einen spielerisch-trotzigen Umgang mit der zeitlichen Begrenzung der Lebenszeit und bekundet unterschwellig Humor. Boltanski selbst spricht davon, sich gewissermaßen in einem selbsttherapeutischen Akt an das Sterben gewöhnen zu wollen.
Auch der Ausstellungsbesucher gewöhnt sich allmählich an die Unausweichlichkeit des Todes, dem vielleicht letzten großen Mysterium der Menschheit, und so durchläuft man die beiden seitlichen Kabinette mit der Installation »Entre temps« aus dem Jahr 2003 schon fast emotionslos. Im ersten Raum tönt aus vier in den Raumecken postierten Lautsprechern laut eine Aufnahme vom Herzton des Künstlers. Daneben läuft im abgedunkelten Kabinett eine Endlosprojektion verschiedener fotografischer Selbstporträts von Boltanski aus unterschiedlichen Lebensphasen. Der Herzschlag ist genauso individuell wie der Fingerabdruck und für Boltanski ein Symbol der Einzigartigkeit jedes Menschen, aber auch seiner Sterblichkeit. So betrachtet sind die Herztöne ein akustisches Selbstporträt - Zeugnis der Existenz, das den physischen Tod überdauern.
Es scheint, als transformiere sich Boltanskis Erinnerungsarbeit im Wettlauf mit der eigenen Restlebenszeit zu einer stärkeren Spiritualität. Im Hinblick auf das eigene Sterben gewinnt die Betonung der Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit eines jeden Individuums zusätzlich an existenzieller Bedeutung. Die zentrale Frage, die in dieser Ausstellung formuliert wird, lautet daher: Ist eine Spiegelung der menschlichen Identität überhaupt möglich und (künstlerisch) darstellbar?
Christian Boltanski. Bewegt. Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg, bis 21. Juli, Di-So 11-18 Uhr. www.kunstmuseum-wolfsburg.de
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