Wie spricht man von Liebe - ohne Betonung?
Die Gedichte von Thomas Brasch
Dieses Buch erschlägt. Und immer trifft es einen Richtigen. Mit seiner Kraft schlägt es zu, schlägt die Lauen in die Flucht, schlägt die Trunkenen in Bann. Schlägt Hände aus oder schlägt ein, wo eine unstillbare Sehnsucht ihre Flügel herreicht. Es schlägt nichts vor, dieses tausendseitige Buch, es schlägt zurück, aber aus keinem Vorwärts, es schlägt sich seitwärts ins Zwielicht, es schlägt Bögen für wilde vergiftete Pfeile, es schlägt verwegenste Töne an, es schlägt wie ein Herz, es ist wie ein Zentralorgan, nur lügt es nicht, dieses Buch ist zum Sterben wahr.
Der Tod ist die Rettung der Dichter. Thomas Brasch würde sich wundern, wie hoch ins Unverzichtbare er mit der Zeit, die er nicht mehr erlebte, gepriesen wird. So ist das Leben: Irgendwann desertieren selbst Feinde auf die Seite der Bewunderer. Mit den weißen Fahnen der Verse schwenkend. Dichters Werk geht seltsame Wege, es geht den Dichter, der dran starb, nichts an. Das Werk kann tun, was es will, kann in eine Seele schneiden oder schneien, wann und wie es ihm beliebt. Mit Zartheit schneiden, sommers schneien.
Dieses Buch, herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz, erzählt den ganzen Brasch. Nicht sein Leben, sondern sein Dichten. Mehr als Leben. »Die nennen das Schrei.« Das ist der Satz des Hohns, des Eigensinns, der Abgrenzung zu denen, die den Schmerz für einen Ausdruck von Krankheit halten. Die Tinkturen und Rezepturen für Existenzaufhilfen halten. Und die womöglich jenen Dichtertyp gut finden, »der dem Schlosser die verlogene Krone/ der Alltagspoesie verleiht«.
Der hier ist so nicht. Ein Radikalist des Empfindens. Das Programm, das dieses Buch erzählt, steht auf Verschleiß. Des Dichters Geschichte ist leidenschaftlich offenen Verquickung von Erdentritt und Höhenflug. Polarität, die er im Vers an Claus Peymann so benennt: »Die Krone und der Eimer/ das Gold und das Wasser/ der Morast und die Moral/ ... / das Spiel und das Gesetz.« Von allem alles, und jedes Extrem gleichzeitig und genießerisch. Die Gedichte sind somit Roman eines Daseins, nicht festzuhalten mit Reisepässen, nicht einklemmbar in Ordnungen, in eine Wohnung, in ein Bett, zwischen die Schenkel einer Frau. »ICH LIEBE DICH kann man / auf dreierlei Weise betonen./ Wie spricht man den Satz ohne Betonung?«
Ideologie, hat Heiner Müller geschrieben, sei der Ersatz für Wirbelsäule. Brasch hatte Wirbelsäule. Müller hat den Satz 1977 in einem Text über Braschs Buch »Kargo« notiert, das im Untertitel heißt: »32. Versuch, auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen«. In Müllers damaligem Porträt steht auch die Definition für Begabung, und Müller hat diese Definition von Johannes R. Becher geliehen: Begabung sei die Fähigkeit, in gesellschaftlich aufschlussreiche Situationen zu geraten. »Ich bin nicht wahnsinnig geworden. Ich habe mich nicht umgebracht. Das ist mein Bier. Drehen Sie sich um, wenn die Wut meine edlen Züge verzerrt. // Was heißt hier: Wut. Unter dem Pflaster schlägt das Blut der Widerstandskämpfer. Über dem Stadion der Weltjugend weht die Fahne des russischen Bären, der geschluckt hat die deutsche Ratte. Ruhe sanft. //Halleluja, der Aufstand fault zwischen meinen gelockerten Zähnen. Halleluja der Wind. Er fegt durch unsere verstaatlichten Hirne.«
In allen Gedichten des Bandes (der aus Zeitungen, Programmheften, Stücken, dem Akademiefundus, aller in Büchern gesammelten Lyrik schöpft und historisch-kritische Kommentare beigibt), spricht ein Mensch des gierigen Einverständnisses mit Chaos und Zwischen-Räumen. Was denn anderes blieb ihm? Er musste mählich, aber unausweichlich mit dem unsicheren Kredit des Wechsels einverstanden werden: geboren 1945 im britischen Exil der jüdischen Eltern; später dann die DDR, wo er als Kind mehrfach die Klasse wechselte. Immer der Fremde; die Biografie wühlt sich in den Widerspruch. Journalistikstudium und Exmatrikulation wegen »existentialistischer Anschauungen«. Kellner, Straßenbau, Filmhochschule Babelsberg - dann Gefängnis wegen »staatsfeindlicher Hetze«, Bewährung in der Produktion, Schlosser, Fräser. Ein Eisenfresser bleibt er auch als Dichter.
Der eigene Vater hatte den Sohn 1968 nach dessen Protest gegen Moskaus Panzer in Prag (deren malmende Ketten auch innigem SED-Wunsch entsprachen!) an die Polizei verpfiffen. Den Sohn, der als Kind in die Kadettenschule der NVA gesteckt worden war. Schriftsteller Christoph Hein, der langjährige Freund, schrieb: »Thomas Brasch hat sich gegen den Kadetten Brasch gewehrt. Dieser Versuch einer Disziplinierung, unverständlich in meiner Zeit, vollkommen unsinnig bei einem Menschen wie Brasch, zerbrach ihn nicht, zerstörte aber die Verbindung zum Vater«. Die höhere politische Weihe des Elternhauses als Ausbildungsplatz für ein erstarktes Denken der Treulosigkeit und für freiwillige Ächtung des ererbten Schutzraums. »In der Quelle sieh den Fluß/ der dir die Lunge sprengt«.
Die wechselnden Betten im Westen: eine Notliege; die Feier der Freiheit: eine Notlüge. »Wo ich wohne ist meine Verkleidung«. So einer, alles Letzte wissend und in seinem Werk gern einen fairen Anteil an aller blutigen Lächerlichkeit der geschichtlichen Hysterien übernehmend, so einer wird sich nicht aufspulen an einem aufgeregt vereinten Deutschland: »Wer hat das Volk gemalt auf die zerfallnen Mauern/ daß die Gesichter wurden zu Gespenstern./ Wie heißen diese Zeiten und wie lange solln sie dauern/ die Stimmen abgegeben kauern wir jetzt in den Fenstern.«
Er träumte vom Verrat, bevor er überhaupt glaubte, und er konnte an keine Utopie glauben, die, vom Ziel berauscht, eine geschichtlich elendige Schuld in Kauf nimmt. Verse berichten davon - ein sinnliches Dröhnen aus der kalten Schmiede der Erkenntnis. Aber da ist immer wieder auch ein tiefes, stilles Verwundern darüber, dass sich Erleben und Leere für einen Dichtungs-Augenblick ausgleichen können. Also: romantischste Liebe, jungenhafter Witz, gelöste Stimmungen. Vitalität und Bildmagie, als grüße, von ganz nah, Arthur Rimbaud. Herrliche Freude daran, sich nicht fortwährend zu ernüchtern (Man wird, lesend, süchtig nach Ansteckungsgefahr.) Und diese Lust an deutscher Sprache! - der Brasch auch Talent zum teuflischen Spiel bescheinigt, denn nur das Deutsche kennt »die Verschmelzung / der schlimmsten Gegensätze ... Staat und Bürger.«
Das Buch enthält auch des Dichters einzige Lyrik-Veröffentlichung in der DDR: »Poesiealbum 89«, Verlag Neues Leben, 1975. Die beigefügte biografische Notiz: unverfrorene Radierung. Als sei es das System-Normalste, ein Jahr zu studieren und dann: »Arbeit in mehreren Berufen«. Das Heft endet mit den Zeilen: »Wer sind wir eigentlich noch./ Wollen wir gehen./ Was wollen wir finden./Welchen Namen hat dieses Loch,/ in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.« Bald darauf wird Brasch das »Loch« zu verlassen suchen. Wir meldeten damals, aus den Schützen-Löchern von Macht und Gewohnheit, keinen Verlust.
Brasch war im grauen Halbdeutschland nicht zu zwingen, heimelig zu werden, im grellen Halbdeutschland wird er nicht heimisch. »Wo ich lebe, da will ich nicht sterben,/ aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.«
Thomas Brasch: Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Martina Hanf und Kristin Schulz. Suhrkamp Berlin. 1030 S., geb., 49,95 €
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