Erdogan droht Demonstranten
Protestierende als »Marodeure« beschimpft / Neue Proteste in Istanbul und Ankara / Polizei geht wieder gewaltsam gegen Regierungskritiker vor
Istanbul (Agenturen/nd). In der Türkei heizt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Stimmung weiter auf. Der AKP-Politiker drohte am Sonntag bei einer Ansprache am Flughafen von Ankara den Demonstranten, Geduld habe ihre Grenzen. In Adana bezeichnete er die Protestierer erneut als „Marodeure“, die mit Protesten Fortschritte in der Türkei verhindern wollten. In Mersin hielt er seine Rede vor einer jubelnden Menge und laufenden Fernsehkameras. Die Atmosphäre erinnerte an Wahlkampfauftritte. Erdogan, dessen Rücktritt Demonstranten immer wieder verlangen, forderte seine Gegner heraus, ihn bei den Wahlen in sieben Monaten zu schlagen.
Derweil ging die Polizei erneut gewaltsam gegen die Protestierenden vor. In Ankara wurden am Sonntagabend erneut Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstöcke eingesetzt, um mehrere tausend Menschen vom zentralen Kizilay-Platz zu vertreiben, berichteten Aktivisten und türkische Medien. Die Demonstranten flüchteten sich in Seitenstraßen. Schon am Vorabend hatte die Polizei in Ankara eine Demonstration gewaltsam aufgelöst. Auf dem zentralen Istanbuler Taksim-Plat versammelten sich am Sonntag erneut Zehntausende und demonstrierten gegen Erdogan.
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erinnerte die türkische Regierung daran, dass zwischen dem Umgang mit Oppositionellen und dem Wunsch Ankaras auf einen Beitritt zur EU ein Zusammenhang bestehe. Ashton zeigte sich in einer am Sonntag in Brüssel veröffentlichten Erklärung „weiterhin besorgt über die Lage in der Türkei“. Sie forderte „Mäßigung von allen Seiten“. Ein „offenes und nachhaltiges Engagement“ der Regierung sei nötig, um „die Demokratie zu stärken, Vertrauen zu schaffen und eine Eskalation zu verhindern“. Soziale Netzwerke dürften nicht unter willkürlichen Druck geraten. Einschränkungen seien nur in den Grenzen der Europäischen Menschenrechtskonvention möglich.
Die Polizeigewerkschaft kritisierte inzwischen die Einsatzbedingungen bei den Protesten. Sechs Polizisten hätten bereits Selbstmord begangen, zitierten Medien Faruk Sezer, den Vorsitzenden der Gewerkschaft Emniyet-Sen. Die Beamte seien zu 120 Stunden langen Dauereinsätzen auf den Straßen gezwungen worden. Die Gewalt gegen Demonstranten resultiere auch aus der Gewalt, die die Polizisten selbst erfahren, sagte Sezer. Seine Gewerkschaft sammle Material, um Gerichtsverfahren gegen den Dienstherrn anzustoßen. Wegen der unverhältnismäßig brutalen Einsätze gegen Demonstranten ist die türkische Regierung international kritisiert worden.
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief den türkischen Ministerpräsidenten zur Achtung der Bürgerrechte auf. „Das ist eine Bewährungsprobe für die türkische Regierung, Europa und der Welt zu zeigen, dass die Herrschaft des Rechts und die Freiheitsrechte ihr etwas gelten“, sagte Westerwelle der „Welt am Sonntag“.
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