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Türkische Gewerkschaften rufen zum Generalstreik

Protest gegen Polizeigewalt / Demonstrationen auch in Deutschland / Rot-rot-grüne Opposition kritisiert türkische Regierung / Appell von Künstlern


  • Lesedauer: 4 Min.

Istanbul (Agenturen/nd). Nach der gewaltsamen Räumung von Gezi-Park und Taksim-Platz in Istanbul haben zwei der größten Gewerkschaften des Landes für Montag zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen. „Wir werden morgen gemeinsam mit der Gewerkschaft DISK und anderen Berufsorganisationen die Arbeit niederlegen“, sagte der Sprecher der Gewerkschaft KESK am Sonntag der Nachrichtenagentur AFP. Gleichzeitig rief er zu einem Ende der Polizeigewalt auf.

Die Polizei hatte am Samstagabend den Gezi-Park und den benachbarten Taksim-Platz gestürmt und binnen weniger Minuten das Protestlager in dem Park geräumt. Nach Angaben von Korrespondenten und Demonstranten gingen die Sicherheitskräfte dabei mit großer Härte vor.

Unterdessen haben sich Zehntausende in Istanbul zu neuen Demonstrationen gegen Erdogan versammelt. Nach einem Aufruf der Protestbewegung versuchten die Demonstranten am Sonntag aus umliegenden Stadtvierteln in Richtung des von der Polizei abgeriegelten Taksim-Platzes zu gelangen, berichteten Augenzeugen. In mehreren Vierteln gab es heftige Zusammenstöße der Demonstranten mit der Polizei. In der zum Taksim-Platz führenden Istiklal-Straße versuchte die Polizei stundenlang vergeblich, tausende Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas zu vertreiben. „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“, riefen die Demonstranten. Am Sonntag schlossen sich erneut Tausende Fußballfans den Protesten an, die von Besiktas aus zum Taksim-Platz gelangen wollten.

Gleichzeitig versammelten sich in wenigen Kilometern Entfernung zehntausende Anhänger der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zu einer Solidaritätskundgebung für Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Der warf internationalen Medien vor, sie berichteten falsch über sein Land. Erdogan behauptete, die britische BBC, der US-Nachrichtensender CNN und die Nachrichtenagentur Reuters betrieben Desinformation. In den vergangenen Tagen hatten bereits einige Tageszeitungen aus dem religiösen Spektrum Stimmung gegen ausländische Medien gemacht. Mehrere türkische Medien waren von der Gezi-Park-Protestbewegung kritisiert worden, weil sie kaum über das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen demonstrierende Regierungsgegner berichtet hatten.

Auch in deutschen Städten demonstrierten Menschen gegen die Polizeigewalt und den Kurs von Erdogan. Mehrere Tausend Menschen zogen vor die Türkische Botschaft in Berlin. „Taksim ist überall“, riefen die Menschen aus Solidarität mit der Protestbewegung. Sie waren vom Kottbusser Tor im Stadtteil Kreuzberg losgezogen. Bereits in der Nacht zuvor hatte es dort spontane Proteste gegeben. Insgesamt waren landesweit am Sonntag mehr als 15 Demonstrationen angekündigt.

Grünen-Chef Cem Özdemir, der bei der Demonstration in Berlin dabei war, sagte, die Aktion sei eine „Geste der Solidarität“. Erdogan gefährde mit seinem „harschen Vorgehen“ eigene Erfolge und entwickle sich zu einem autoritären Führer. Eine Vorbild-Rolle für die Demokratie habe er auf dem Taksim-Platz verspielt, sagte Özdemir. Die Protestbewegung gegen die Regierung Erdogans kann aus Sicht des Grünen-Chefs auch Folgen für das Zusammenleben der Türken in Deutschland haben. „Die Polarisierung ist stärker geworden. Es gibt wieder eine stärkere Teilung in Anhänger und Gegner Erdogans.“

Auch Berlins Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) solidarisierte sich mit den Demonstranten in der Türkei und kritisierte Ministerpräsident Erdogan. Sie schrieb im „Tagesspiegel“, eigentlich habe es genug Anzeichen dafür gegeben, „dass die Reformen eher auf dem Papier stehen, als dass Erdogan ein wirklicher Demokrat ist, der für die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt in der Türkei steht“. Die Krise in der Türkei hat laut Kolat auch Folgen für das Leben der Migranten in Deutschland. „Jede gesellschaftliche Entwicklung dort ist auch hier zu spüren und wirkt sich auf unsere Gesellschaft aus.“

Die Linken-Politikerinnen Heike Hänsel und Sevim Dagdelen, die sich zur Stunde in Istanbul aufhalten, kritisierten die türkische Regierung scharf. „Ich bin schockiert über die brutale Gewalt der Polizei auf friedliebende, feiernde Menschen, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Park befanden“, sagte Dagdelen. Sie verurteile „die brutalen Angriffe auf die friedlichen Proteste im Gezi Park und landesweit“. Die Bundesregierung müsse ihre sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Erdogan und seinem islamistischen Unterdrückungsstaat sofort beenden, forderten die Linken-Politikerinnen. Es sei „offensichtlich, dass die bisherigen lauwarmen Ermahnungen der Bundesregierung an Erdogan keinerlei Wirkung entfalten. Ganz im Gegenteil! Erdogan versteht es offenbar als eine Ermunterung für eine Verschärfung bis hin zum Bürgerkrieg in der Türkei.“

Die landesweite Protestwelle in der Türkei hatte sich vor zwei Wochen an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park entzündet. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne, in der es Wohnungen, Geschäfte oder ein Museum geben soll. Inzwischen richten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen Erdogans autoritären Regierungsstil.

Derweil haben Schauspieler, Filmemacher und Schriftsteller in einem offenen Brief an Kanzlerin Merkel gefordert: „Bitte schauen Sie nicht zu.“ Merkel solle gemeinsam mit den europäischen Regierungschefs die türkische Regierung dazu bewegen, die Gewalt gegen die Bevölkerung zu beenden. Den Appell haben Film- und Theaterregisseure wie Fatih Akin, Dani Levy, René Pollesch, Sebastian Nübling und Lukas Langhoff unterzeichnet. Die Schauspieler Sibel Kekilli, Jan Josef Liefers, Anna Loos und zahlreiche Autoren gehören auch zu den Unterzeichnern des Briefes.

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