Kein freies Leben unter Tränengas
Momentaufnahmen von der Erstürmung eines bunten Volksfestes in Istanbul
Samstagabend in Istanbul. Die Atmosphäre auf dem Taksim-Platz und vor allem in dem angrenzenden Gezi-Park erinnert an eine Mischung aus Volksfest und überfülltem Campingplatz. Dicht an dicht stehen die Zelte, Aktivisten verschiedenster politischer Organisationen haben Stände aufgestellt und legen Flugblätter, Zeitschriften und Bücher aus. Neben den Biologen, die für den Erhalt des botanischen Gartens der Universität Unterschriften sammeln, werben die Mitglieder einer linken Partei für die Einheit des Proletariats, säkulare Feministinnen stören sich in ihrer »belästigungsfreien Zone« nicht an den wenige Meter entfernten Frauen mit Kopftüchern von den »antikapitalistischen Muslimen«. Überall sitzen Gruppen und diskutieren.
Wasserwerfer fahren auf
In der Bewegung gibt es erhebliche Differenzen darüber, wie es mit dem Protest weiter gehen soll. Das Bündnis »Taksim-Solidarität«, das aus mehr als 110 Gruppen und vielen Einzelpersonen besteht, will das Camp durch ein symbolisches Zelt ersetzten. »Wir wollen den Protest in die Gesellschaft tragen«, sagt ein Vertreter von ihnen. Doch die »Taksim-Plattform«, Teil des Bündnisses, lehnt das ab. Die Aktivisten wollen die Differenz nicht öffentlich machen, sie fürchten, dass das die Bewegung schwächen würde.
Bei beginnender Dunkelheit ziehen immer mehr Menschen über die Treppe vor dem Park auf den Taksim-Platz. Ein langer Korso von Motorradfahrern eines linkes Klubs fährt mit lautem Getöse vorbei. Passanten bejubeln den Korso. Aber die Stimmung beginnt zu kippen. Die Menschen spüren: Es liegt Unheil in der Luft.
Jetzt formieren sich Polizeitruppen. Über Lautsprecher werden die Demonstranten aufgefordert, den Platz zu räumen. Doch dazu sind sie nicht bereit. Stattdessen strömen aus dem Park immer mehr Menschen zu den Demonstranten auf den Taksim. Viele sind mit einem Mundschutz ausgestattet. In der Zeltstadt im Gezi-Park breitet sich Nervosität aus.
Am Ende des Parks stehen Dutzende von Einsatzkommandos und Wasserwerfer. Die Polizisten tragen Helme und haben Tränengaspistolen dabei. Hinter den Kommandos in Uniform stehen Dutzende Männer in Zivilkleidung. Sie haben die gleichen Helme auf und Plastikschilde mit der Aufschrift »Polizei« in der Hand. Als es dunkel ist, geht es los. Zuerst schlagen die Einsatzkräfte auf dem Taksim zu. Die Polizisten knüppeln die Demonstranten vom Platz. Wasserwerfer rücken vor, die Luft ist voller Tränengas.
Hotels sind Fluchtpunkte
Wer das Gelände nicht verlassen kann, und das ist nicht einfach, bekommt einiges ab - Glück hat, wen nur das Tränengas trifft. Die Aktivisten am Anfang der Zeltstadt bekommen die Knüppel zu spüren. Mit den Polizisten kommen die Bulldozer und Wegräumer auf den Taksim-Platz. Die türkischen Ableger von NTV und CNN berichten bis in die frühen Morgenstunden auch von Protesten in Ankara und Izmir live.
Wer von den Protestierenden es geschafft hat, in eines der Hotels am Ende des Gezi-Parks zu fliehen, kann das in der Bar oder der Lobby verfolgen. Am Rande des Parks hat sich eine ganze Reihe von Luxushotels angesiedelt. Das Hotelpersonal ist auf die tränengasgeschädigten Besucher eingestellt. In den Lobbys liegen Zitronen und Servietten. Mit Zitronensaft beträufelte Tücher mildern den Schmerz. »Die Geschäfte laufen schlecht«, sagt ein Barmann im auf Scheichbesuch spezialisierten Hotel »Rixos«. Trotzdem ist man zu den Aktivisten nett, wie auch in anderen Hotels und Bars. Gegen 21.30 Uhr zeigt NTV die menschenleere Zeltstadt im Gezi-Park. Wenig später beginnen die Einsatzkräfte, die provisorischen Behausungen, Tische und Sitzgelegenheiten zu Müllbergen zusammen zu schieben. Zur gleichen Zeit zerstreut die Polizei immer wieder Gruppen von Protestierenden. Auf der Kleidung einiger Aktivisten ist Blut zu sehen, manche haben Kopfwunden. In den Straßen rund um den Taksim-Platz finden die ganze Nacht regelrechte Straßenschlachten statt. Der Reporter von NTV kreuzt regelmäßig nach dem Geschehen dort auf und berichtet live.
Vor dem Hotel »Rixos« bauen Aktivisten eine Barrikade aus Müllcontainern. Schnell rücken Einsatzkräfte an. Immer wieder sättigt sich die Luft mit Tränengas, hier und in anderen Straßen des Viertels. Viele Menschen sitzen in Bars oder Restaurants fest und wagen sich nicht vor die Tür. Weit kämen sie ohnehin nicht, denn die Polizei hat Straßen abgesperrt.
Nachdem sie die Nachricht von der Räumung des Gezi-Parks gehört haben, wollen viele Istanbuler in die Innenstadt. Doch die Polizei sperrt den Weg. Die Brücke, die Asien und Europa verbindet, ist dicht. Im Stadtteil Taksim geht gar nichts mehr. Die U-Bahn ist geschlossen, sämtliche Wege zum Taksim-Platz von der Polizei abgeriegelt.
Reste für die Müllabfuhr
Sonntagmorgen in Istanbul. Die Polizeipräsenz ist immer noch enorm. Der Gezi-Park bietet einen deprimierenden Anblick. Wo gestern noch Zelte standen und die türkische Demokratiebewegung feierte, herrscht Öde. Müllarbeiter und Polizisten haben das Gelände besetzt. Nichts erinnert mehr an die sympathische bunte Gemeinschaft, die hier nicht nur für, sondern selbst ein freies Leben in Vielfalt demonstriert hat.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.