»Krankenversicherte machen mit ihrer Freibier-Mentalität das Gesundheitswesen kaputt«
Wirklich? Aufklärung über die Mythen der Gesundheitsdebatte - Teil 4 der nd-Serie
»In ein paar Jahren wird das Gesundheitswesen unbezahlbar sein«, droht uns die veröffentlichte Meinung seit Jahren. Und warum? Es liegt angeblich am demografischen Wandel, am medizinisch-technischen Fortschritt, der Freibiermentalität der Patienten. Mit solchen »Argumenten« werden Privatisierungen im Gesundheitswesen als unumgänglich vorangetrieben; ärztliche Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen, Zuzahlungspflichten begründet. Derweil verdient nicht nur die Pharmaindustrie Unsummen. Doch wer kritisiert hier was und warum? Nadja Rakowitz wirft einen kritischen Blick auf das real existierende Gesundheitssystem - und zeigt, dass Alternativen sogar innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sind. Klarheit statt Mythen: hier täglich in einer neuen nd-Reihe.
4. »Freibiermentalität« oder »Vollkasko-Mentalität«
Der Mythos:
Für die Versicherten und PatientInnen sind die medizinischen Leistungen größtenteils kostenlos. Was nichts kostet, so heißt es, das schätzt man nicht. Folge: Die Versicherten nehmen verschwenderisch Leistungen in Anspruch, schließlich sind sie gratis.
Hintergrund und Faktenlage:
Hintergrund dieser Argumentation ist ein Modell aus dem ökonomischen Lehrbuch („moral hazard“ oder „Rationalitätenfalle“), das annimmt: Menschen, die etwas (vermeintlich) umsonst bekommen, gehen damit sorglos um. Wenn es beispielsweise Freibier gibt, bestellt (und/oder trinkt) man eben mehr Bier, als man verträgt und eigentlich will. Dieses Modell wird auf das Gesundheitswesen übertragen. Als ob man sich mal eben eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt gönnen würde oder eine Herzkatheteruntersuchung bei der Herzspezialistin, weil sie ja nichts kostet beziehungsweise mit den geleisteten Krankenversicherungsbeiträgen für den einzelnen Versicherten schon abgegolten ist!
Es stimmt: Es gibt in manchen Bereichen Überversorgung im deutschen Gesundheitswesen. Menschen bekommen medizinische Maßnahmen oder auch Arzneimittel verordnet, die medizinisch nicht notwendig sind. Das sieht man im Moment besonders drastisch in den Krankenhäusern.
Die Freibier-These ignoriert aber, dass in der Regel ein Arzt oder eine Ärztin, also ein Anbieter von Leistungen (und oft auch derjenige, der daran verdient) entscheidet, welche medizinische Behandlung die PatientInnen bekommen. Studien zeigen, dass die genannte Überversorgung auf die Anreize zurückzuführen ist, die vom System selbst gesetzt sind: Bekommt ein Arzt für jeden „Handschlag“ und jede Leistung unmittelbar Geld (Einzelleistungsvergütung), wird er also nicht pauschal, zum Beispiel mit einem Gehalt, bezahlt, ist die Versuchung (als Kleinunternehmer oder Krankenhaus-Arzt, der einen Arbeitsvertrag mit leistungsabhängiger Bezahlung hat) groß, möglichst viele Leistungen zu verordnen und abzurechnen.
Die Ursache des Problems der Überversorgung ist also nicht auf der Seite der PatientInnen zu suchen, sondern auf der Seite der Anbieter. Begegnet wird dem Problem aber auf der Seite der PatientInnen – durch Streichungen von Leistungen aus dem Leistungskatalog und «mehr Eigenverantwortung», was nichts anderes heißt als: Die Versicherten beziehungsweise die PatientInnen sollen für die medizinische Versorgung möglichst viel aus der eigenen Tasche bezahlen oder zumindest zuzahlen oder besser noch: individuelle private Zusatzversicherungen abschließen.
Anstatt also bei den PatientInnen anzusetzen, sollte man die Anbieter und das System der Vergütung ins Visier nehmen – allerdings nicht so, dass am Ende eine Rationierung von Leistungen zulasten der PatientInnen, also das Vorenthalten von medizinisch notwendigen Leistungen herauskommt. Jenseits von gesundheitspolitischen Überlegungen muss die Gesellschaft mit dem Phänomen, dass viele alte einsame Menschen oft beim Hausarzt oder bei der Hausärztin sitzen, „damit sie mal mit jemandem reden können“, anders umgehen. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens, die als soziales Problem angegangen werden müssen, anstatt das Gesundheitssystem zu zerstören.
Die von Dr. Nadja Rakowitz verfasste Broschüre „Gesundheit ist eine Ware. Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens“ ist in der Reihe »luxemburg argumente« erschienen und kann bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bestellt werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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