Zwei Schritte zurück: Warum demonstrieren?

Eine Erwiderung auf Tobias Riegels Text »Einen Schritt zurück - Türkei-Protest: Medien ohne Distanz«

  • Norman Paech
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Taksim-Platz hat das Feuilleton erreicht. Dort herrschen andere Gesetze und Freiheiten als auf den vorderen Seiten der Presse. Analyse und Kenntnis treten zuweilen zurück, wenn nur die Überraschung gelingt und die Pointe sitzt. Auch Tobias Riegel (»nd« vom 17.6.2013) scheint die Ereignisse auf dem Taksim-Platz nicht zu verstehen. Er ist von allen Ansätzen zur Erklärung zwischen Rechts und Links, zwischen »Bild«, »taz« und unerfüllten »68er-Fantasien« und natürlich auch von den »großen Medien« frustriert. Ich verstehe das, ich mag auch die Mehrzahl dieser Angebote nicht. Aber auf den Gedanken, vor dem Losschreiben erst einmal abzuwarten, bis die Distanz und auch internationale Stimmen mehr Klarheit bringen - nicht alle sind Idioten - oder einmal selbst sich vor Ort zu begeben, ist der Autor offensichtlich nicht gekommen.

Es hat noch nie eine unvoreingenommene und verlässliche Berichterstattung über die gesellschaftlichen Probleme der Türkei gegeben. Das rächt sich jetzt und es ist vollkommen legitim, Fragen an die Behauptungen, Projektionen und Vorurteile zu stellen. Doch seine Fragen mit eigenen Behauptungen zu belasten, wird den Fragenden nie aus seinem Unverständnis befreien.

Woraus schließt Tobias Riegel, dass nicht gegen die »Wirtschaftsordnung oder himmelschreiendes Unrecht« protestiert wurde? Weil die Mehrheit der Aktivisten »scheinbar der oberen Mittelschicht entstammt«? Hat der Protest gegen die Zerstörung eines öffentlichen Parks und seine Verwandlung in ein renditeträchtiges Einkaufszentrum und Apartments nichts mit der Wirtschaftsordnung zu tun? Die hemmungslose Gentrifizierung hat schon in anderen Stadteilen Istanbuls zu Demonstrationen geführt. Es ist nicht nur der autoritäre Zugriff, der die Menschen auf die Straße treibt, sondern der Protest gegen eine neoliberale Privatisierung aller öffentlichen Güter, aus denen man Profit schlagen kann.

Die überall gelobten Wachstumsraten von Handel und industrieller Produktion sind an den meisten Menschen auf dem Land und in der Stadt vorbeigegangen - eine natürliche Folge des neoliberalen Gesellschaftskonzepts von Erdogan. Deshalb der Zustrom zu den Demonstrationen von den Ultras der Fußballvereine Galatasaray, Fenerbahce und Beşiktas, von Büroangestellten bis zu Künstlern, Journalisten und Intellektuellen der Universitäten. Eine Demonstration für Demokratie, die nach eigenen Angaben der türkischen Presse nicht vorangekommen ist, und beileibe nicht nur ein Anliegen der oberen Mittelschicht ist. Der Kampf um einen kleinen Park ist zur Metapher für Demokratie und eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung geworden, so heterogen und spontan die Menschen auch zusammengekommen sind.

Wie fremd dem Autor das Geschehen auf dem Taksim-Platz geblieben ist, zeigt seine Frage, ob es angemessen sei, für diese Bäume »das öffentliche Leben eines ganzen Landes lahmzulegen«. Er hat vor dem Fernseher offensichtlich den Überblick verloren. Es gab auch an anderen Orten, an denen es schon gar nicht um Bäume ging, Demonstrationen mit den gleichen brutalen Polizeieinsätzen, aber der normale Gang des Landes und Erdogans Machtapparat wurden davon nur wenig erschüttert.

Am Morgen des 18. Juni setzte die Polizei zu großangelegten Razzien und Hausdurchsuchungen in Istanbul, Ankara und Eskişer an. Hunderte Personen wurden festgenommen. Die politischen Prozesse gegen die Journalisten und Rechtsanwälte gingen weiter, der oppositionelle TV-Sender »Hayat« (Leben), die wichtigste Informationsquelle der Widerstandsbewegung außer Twitter, wurde schon zum 14. Juni geschlossen.

Für Tobias Riegel hat Erdogan den »Kurdenkrieg beendet«, da sein »moderater Islam [...] ein durchaus antikoloniales Potenzial« in sich berge. Das mag in Kreisen der AKP so gesehen werden und bei Erdogans Kritik an Israels Besatzungspolitik stimmen. Doch in Südost-Anatolien ist der koloniale Status der Kurden noch lange nicht vorbei. Ihr schon Jahrzehnte währender Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung dauert immer noch an. Die Guerilla ist zwar auf dem Rückzug, aber Regierung und Armee haben sich noch nicht bewegt. Jederzeit kann ein neuer Angriff der Regierungstruppen erfolgen. Niemand traut Erdogan - aus schlechter Erfahrung. Keiner der über 7000 politischen Häftlinge wurde aus den Gefängnissen befreit und das gefährliche Dorfschützer-System wird weiter aus- statt abgebaut. Die Arbeitslosigkeit erreicht in den Städten 70 Prozent.

»Wer im Schützengraben sitzt, verliert den Überblick«. Nehmen wir dies als Eingeständnis des Autors. Sein Frust führt ihn schließlich zu der Schlussapotheose, »dass der auf den ersten Blick emanzipatorische Protest eher die autoritären Strukturen, die Erdogan zurückgedrängt hat«, fördert und die Militaristen und Ultranationalisten stärkt. Ist der Autor also der Meinung, es wäre besser gewesen, der Protest wäre unterblieben? Ihm fehle ohnehin eine »organisierte sozialistische Alternative«, schreibt Riegel.

Legitimiert sich eine Demonstration denn erst durch die sozialistische Perspektive?

Norman Paech ist Jurist und Politiker (LINKE). Dieser Tage kehrte er von einer Reise nach Kurdistan und Istanbul zurück.

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Einen Schritt zurück – Tobias Riegel über Medien ohne Distanz

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