Das Gesundheitssystem krankt an knappen Kassen

Wirklich? Aufklärung über die Mythen der Gesundheitsdebatte - Teil 8 der nd-Serie

  • Lesedauer: 4 Min.

»In ein paar Jahren wird das Gesundheitswesen unbezahlbar sein«, droht uns die veröffentlichte Meinung seit Jahren. Und warum? Es liegt angeblich am demografischen Wandel, am medizinisch-technischen Fortschritt, der Freibiermentalität der Patienten. Mit solchen »Argumenten« werden Privatisierungen im Gesundheitswesen als unumgänglich vorangetrieben; ärztliche Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen, Zuzahlungspflichten begründet. Derweil verdient nicht nur die Pharmaindustrie Unsummen. Doch wer kritisiert hier was und warum? Nadja Rakowitz wirft einen kritischen Blick auf das real existierende Gesundheitssystem - und zeigt, dass Alternativen sogar innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sind. Klarheit statt Mythen: hier täglich in einer nd-Reihe.

Knappe Kassen

Diagnose:

Die Finanzierung des Gesundheitswesens wird zunehmend schwieriger. Die Krankenversicherungen sind knapp bei Kasse. Als Grund hierfür wird zum einen die «Kostenexplosion» genannt; zum anderen die Tatsache, dass die Kassen ihre Einnahmen nicht erhöhen können, weil sonst die Lohn(neben)kosten steigen würden.

Therapie:

Es wird versucht, die Finanzierung des Gesundheitswesens zu ändern («von den Arbeitskosten entkoppeln»), Leistungen der GKV zu streichen (die dann privat bezahlt werden müssen) oder Personal einzusparen – statt systematische Verschwendung und Überversorgung wirksam zu bekämpfen.

Hintergrund und Faktenlage:

Das Gesundheitswesen wird über Sozialversicherungsbeiträge, Beiträge der PKV, Steuern und die privaten Haushalte finanziert. Die Sozialversicherungsbeiträge werden nur auf Löhne und Gehälter – und nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze – erhoben. Wer mehr verdient, muss den Beitrag nur bis zu dieser Grenze bezahlen.

Die Ausgaben für Gesundheit haben sich in den letzten Jahren immer weiter verschoben auf die ArbeitnehmerInnen und die privaten Haushalte. Von einer «Kostenexplosion» kann aber nicht die Rede sein.

Die Gesamtausgaben für Gesundheit betrugen im Jahr 2011 rund 290 Milliarden Euro (das entspricht 11,6 Prozent/BIP); die meisten Ausgaben trug die GKV mit 179 Milliarden (ca. sieben Prozent/BIP). Die Ausgaben bewegen sich seit Anfang der 1990er Jahre ungefähr auf diesem Niveau. Pro Kopf der Bevölkerung sind das etwa 3.500 Euro im Jahr. Deutschland leistet sich – gemessen am BIP-Anteil – das viertteuerste Gesundheitswesen der Welt. 49 Prozent der gesamten Ausgaben gingen in den ambulanten Sektor, 36 Prozent in den stationären Sektor. Während bei den GKV-Ausgaben der stationäre Sektor mit rund 35 Prozent der größte Posten ist, gefolgt von Arzneimitteln (im ambulanten Sektor) mit rund 18 Prozent und der ärztlichen Behandlung mit 16 Prozent.

Die Finanzierung des Gesundheitswesens wäre sehr viel stabiler, wenn alle Einkommensarten ohne Beitragsbemessungsgrenze – oder durch eine Erhöhung derselben – mit einbezogen werden würden. Das würde eine Ausweitung der Solidarität bedeuten und die Lasten der Kosten auf alle Schultern verteilen. Man nennt dies Bürgerversicherung.

Die Unionsparteien CDU/CSU und die FDP wollen dagegen ein Kopfpauschalenmodell einführen. Das würde bedeuten, dass sich die Beiträge für die Krankenversicherung nicht mehr prozentual am Einkommen orientieren, sondern pauschal in gleicher Höhe pro «Kopf» erhoben werden – von der ALDI-Kassiererin wie vom Sparkassendirektor. Schon jetzt hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP einen pauschalen Zusatzbeitrag eingeführt, den jede Krankenkasse erheben kann, wenn ihr das Geld nicht reicht. Im Moment nimmt aber keine gesetzliche Kasse einen Zusatzbeitrag, weil die GKV beziehungsweise der Gesundheitsfonds mit mehreren Milliarden Euro Überschüssen gut ausgestattet sind.

Zusätzlich zum Beitrag und (möglichem) Zusatzbeitrag müssen Versicherte beziehungsweise PatientInnen noch Zuzahlungen leisten – etwa für Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Physiotherapien, Heilmittel. Das unterscheidet sich deutlich vom Sachleistungsprinzip, das im System der GKV bislang galt: Es schreibt vor, dass zwischen PatientIn und ÄrztIn beziehungsweise Leistungserbringer kein Geld stehen soll.

Die öffentliche Hand ist gesetzlich verpflichtet, die Investitionskosten von Krankenhäusern, die im Krankenhausplan stehen, zu übernehmen. Seit einigen Jahren kommt sie dieser Pflicht aber nicht mehr nach; sodass bei den Krankenhäusern ein Investitionsstau von über 50 Milliarden Euro entstanden ist.

Die von Dr. Nadja Rakowitz verfasste Broschüre „Gesundheit ist eine Ware. Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens“ ist in der Reihe »luxemburg argumente« erschienen und kann bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bestellt werden.

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