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Großer Erfolg für die Demokratiebewegung

Andrej Hunko: Gezi-Proteste haben die Türkei verändert

  • Lesedauer: 4 Min.
Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der LINKEN, war in den vergangenen Tagen in verschiedenen Regionen der Türkei auf Reisen. Über die Situation nach den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul befragte ihn für »nd« Roland Etzel.

nd: Gerade wurde das Gerichtsurteil bekannt, das die Bebauung des Gezi-Parks für unrechtmäßig erklärt hat. Wie erklären Sie sich diese Wendung?
Hunko: Ob in Istanbul, in Sivas bei den Aleviten oder in Antakya an der syrischen Grenze - überall sagten mir Gesprächspartner, es gebe eine Zeit vor und eine nach Gezi. Die Veränderung in breiten gesellschaftlichen Schichten der Türkei ist tiefgreifend. Ein Beispiel: In Sivas fand am 2. Juli eine Demonstration zum Gedenken an die über 30 Opfer des pogromartigen Brandanschlags am Madimak-Hotel im Jahre 1993 statt. Bei diesem Gedenkmarsch waren erstmals auch wichtige Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft vertreten, darunter der Vorsitzende der türkischen Ärztekammer und der Vorsitzende der deutsch-türkischen Gesellschaft. Das Gerichtsurteil würde ich in den Kontext dieser Veränderungen stellen. Das ist ein großer Erfolg für die Bewegung.

Wie stehen Sie angesichts dessen zu den Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei?
Ich habe verschiedene Gesprächspartner um Rat gefragt. Einerseits gibt es Skepsis gegenüber einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die Zahl der Befürworter ist auf einen Tiefstand gefallen. Mittlerweile befürworten nur noch deutlich unter 30 Prozent der Bevölkerung den Beitritt. Andererseits hält man den Verhandlungsprozess für sehr wichtig, weil damit Hoffnungen auf eine Demokratisierung verbunden sind. Da ist es entscheidend, wie glaubwürdig sich die EU selbst verhält. Vor Eröffnung des nächsten Kapitels in den Verhandlungen will man den Herbstbericht der EU-Kommission abwarten. Insofern spürt die türkische Regierung einen gewissen Druck, nicht weitere Bilder zu produzieren, wie sie aus Istanbul geliefert wurden.

Zu Ihren Gesprächspartnern gehörte ein Vertreter des »Rates der Weisen«, der die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK begleitet.
Ja, ich habe einen kurdischen Vertreter des Rates getroffen. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Art Umfrage- und Kommunikationsorgan. Die 63 Mitglieder des Rates haben binnen zwei Monaten mit 60 000 Menschen in 81 Städten gesprochen, mit der Bevölkerung und mit Repräsentanten verschiedener Vereinigungen, um deren Haltung zum Friedensprozess zu erkunden. Nach übereinstimmender Einschätzung ist die Bevölkerung für einen echten Friedensprozess bereit. In seinem Abschlussbericht hat der Rat das ausgedrückt, aber auch Forderungen genannt: Bildung in der Muttersprache, Freilassung von Gefangenen, Veränderungen im Staatsbürgerrecht und eine gewisse Form der Selbstverwaltung für die kurdischen Gebiete. Die Befürchtung meines Gesprächspartners war allerdings, dass dieser Bericht verfälscht wird, dass Nebensächlichkeiten in den Mittelpunkt gestellt werden und die wichtigsten Dinge, die Premier Erdoğan nicht umsetzen will, eliminiert werden.

Haben die Geschehnisse um den Gezi-Park den Friedensprozess beeinflusst?
Der Friedensprozess wurde anfangs in der alevitischen Gemeinde mit gewisser Sorge gesehen. Die Aleviten fürchteten, dass der türkisch-kurdische Konflikt unter sunnitischer Flagge gelöst wird, dass sunnitische Türken und Kurden gemeinsame Sache zum Nachteil von Aleviten und Liberalen machen. Das ist jetzt unwahrscheinlich geworden. Auch die Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts hängt von der Demokratisierung der Türkei ab, nicht von Geheimabsprachen mit Erdoğan.

Sie waren auch in der türkisch-syrischen Grenzregion. Wie haben Sie die Situation dort erlebt?
Ich wollte mehrere Flüchtlingslager besuchen. Gezeigt wurde mir ein Vorzeigelager im Süden von Antakya. Dort leben 6000 Flüchtlinge in durchaus friedlicher Atmosphäre, die Bedingungen waren geradezu vorbildlich. Es gibt aber andere Lager, in die kein Abgeordneter und kein Vertreter internationaler Organisationen kommt, über die aber Waffenlieferungen oder zumindest die Versorgung militanter Islamisten wie die Al-Nusra-Brigaden oder Al Qaida abgewickelt werden sollen.

Haben Sie die Leitung des Lagers, in dem sie waren, danach gefragt?
Die haben nur gesagt, dafür seien sie nicht zuständig. Man kann das als Bestätigung interpretieren.

Wie ist die Stimmung der Bevölkerung im Grenzgebiet generell?
Es herrscht eine enorme Antikriegsstimmung. Auch die Protestbewegung hat daran großen Anteil. In dieser Bewegung verschmilzt nämlich der Protest gegen die zunehmende Islamisierung mit den Bildern von der syrischen Grenze, wo radikale Islamisten Gräueltaten begehen. Analog zur Besetzung des Gezi-Parks wurden türkeiweit Plätze besetzt. Überall ging die Polizei brutal dagegen vor - nur in Antakya nahe der Grenze ist der Sevgi-Park immer noch besetzt. Der Hintergrund ist, dass hier am 3. Juni ein junger Mann aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurde. Zu seiner Beerdigung kamen Hunderttausende. Die Reaktion der Bevölkerung war so heftig, dass sich die Polizei scheute, den Park zu räumen. Selbst Teile des Militärs stellten sich hier schützend vor die Bevölkerung.

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