Die Angst vor dem Leichtgewicht

Kolumbiens größtes Talent fährt in Weiß

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Nairo Alexander Quinta Rojas ist der beste Nachwuchsfahrer bei der diesjährigen Tour de France. Die Favoritenteams haben Respekt vor dem kolumbianischen Kletterer - nicht nur weil seine Geschichte Stoff für moderne Heldenerzählungen bietet.

Alle Welt blickt auf Chris Froome, den Mann in Gelb. Doch derjenige, der am Samstag die wilde Jagd in den Pyrenäen ausgelöst hat, ist ein anderer: Nairo Quintana, 23, stärkster Vertreter der wiedererblühten kolumbianischen Kletterschule. Er ist der Mann, vor dem Team Sky am meisten Angst hat.

»Oh, Quintana ist so dynamisch. Er kommt hier ohne Druck hierher. Wir dürfen ihm nicht den geringsten Platz lassen«, sagte Nicholas Portal, sportlicher Leiter bei Christopher Froomes Sky-Team. Portal weiß noch genau, wie der Kolumbianer im vergangenen Jahr beim Criterium du Dauphiné dem Sky-Zug entwischt war und die Königsetappe gewonnen hatte. Damals hatte ihn sein Team Movistar nicht mit ins Touraufgebot genommen. In diesem Jahr schockte Quintana Sky, als er bei seinem Gesamtsieg bei der Baskenlandrundfahrt nicht nur eine Bergetappe gewann, sondern auch beim Zeitfahren besser war als der jetzige Tourzweite Richie Porte (Sky) und Alberto Contador.

Als Quintana sich bei seiner Debüt-Tour am Samstag fünf Kilometer vor dem Col de Pailheres aus dem Peloton davonstahl, legte Sky sofort eine Schippe drauf. Das war zuviel für das hoffnungsvoll gestartete BMC-Duo Tejay Van Garderen (USA) und Cadel Evans (Aus). Es war auch zuviel für Andy Schleck (Luxemburg) und Andreas Klöden (beide Radioshack). Quintana indes sammelte auf seinem Weg an die Spitze den französischen Nationalhelden Thomas Voeckler (Europcar) ein und flog am holländischen Kletterer Robert Gesink (Belkin) vorbei, der nur resigniert abwinkte.

Sein Vorsprung ging erst wieder auf der Abfahrt zurück. »Nairo ist ein Leichtgewicht. Da hat er bei Tempoabfahrten, die technisch nicht so anspruchsvoll sind, Nachteile«, erklärte Movistars sportlicher Leiter Jose Luis Jaimerena gegenüber »nd«. Beim Aufstieg nach Ax 3 Domaines fing ihn Team Sky dann aber noch ein. »Ich dachte, jetzt übernehmen meine Mannschaftskollegen«, erzählte mit leichter Enttäuschung Quintana später. Aber sein Kapitän Alejandro Valverde (Spanien) beschränkte sich darauf, den Abstand zu Froome als Dritter in erträglichen Maßen zu halten. Quintana war auch etwas verwundert, dass niemand anderes von den Ausreißern ihn begleiten wollte. »Ich wollte nicht die ganze Zeit allein unterwegs sein«, meinte er.

Der 23-Jährige erwies sich aber als zu stark für die Konkurrenz. Das mag an seinem Talent liegen. »Er ist der neue Star des kolumbianischen Radsports, ein pures Klettertalent«, lobt ihn der italienische Kolumbienexperte Claudio Corti, der ein nur aus Andenfahrern bestücktes Team zum Giro d’Italia führte. Es mögen aber auch die - vom Reglement erlaubten - zwei Monate Training in 3 000 m Höhe in den heimischen Anden geholfen haben, die sicherlich zu einer hohen Konzentration roter Blutkörperchen führten. Bei diesem Aufenthalt könnte Quintana allerdings auch das Gefühl für die Grenzen der Leistungsfähigkeit europäischer Radprofis verloren haben.

Kritisieren an Quintanas Coup wollte Jaimerena nur, dass er etwas zu früh die Attacke gestartet habe. »Aber er ist hier zum Lernen«, meinte der Spanier.

Sky hofft nun, dass die Lernkurve des Kolumbianers nicht allzu steil in die Höhe weist. Denn neben seinen sportlichen Qualitäten verfügt er auch über biografisches Starmaterial. Er stammt aus einer armen Bauernfamilie in den Bergen. Zum Radsport kam er nur, weil er als Kind mit einem 20 Kilogramm schweren Fahrrad jeden Tag achtzehn Kilometer zur Schule fuhr und dabei einen Berg mit 8 Prozent Steigung bewältigen musste. Es ist die Geschichte eines Aufsteigers, die das Potential hat, die Geschichte des »weißen Kenianers« Chris Froome in den Schatten zu stellen.

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