»Ach, das war ein Mann«

Jean Paul 2013: Oberfranken feiert den 250. Geburtstag seines Dichters

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 8 Min.

Morgens stiefelte er los, beinahe jeden Tag. Mit Ranzen, Knotenstock und Hund verließ Jean Paul seine Wohnung in der Bayreuther Friedrichstraße und begab sich auf die Wanderung zu Anna Dorothea Rollwenzel und ihrem Gasthaus östlich der Stadt, seiner Rollwenzelei. Dort fand er, gestresst von Ehekrisen und Familienzwist, die nötige Ruhe zum Schreiben. Die Wirtin, eine herzensgute Frau, hatte ihm im oberen Stock ein Zimmer eingerichtet, sie sorgte für Pellkartoffeln, sein braunes, bitteres Bier und für stimulierende Bewunderung. Sie war stolz auf ihren Dichter, unsagbar stolz sogar, auch wenn sie keins seiner Bücher kannte, sie bemutterte ihn wie einen Sohn und passte auf, dass er sich nicht überforderte und in seiner Schreibwut die Mahlzeiten kalt werden ließ. »Ach, das war ein Mann!«, schwärmte sie Monate nach seinem Tod, wie einen Gott auf Erden habe sie ihn angesehen, nur »hier in Bayreuth haben sie ihn gar nicht zu estimieren gewußt«.

Lange danach, 1902, pilgerte der junge Alfred Kerr zur Rollwenzelei (die man auch heute besichtigen kann). Das helle und karg möblierte Stübchen noch so, wie es damals war. Hinterher schrieb er trotzig und mit einem Seitenblick auf Richard Wagner ins Gästebuch: »Vergessen dich die Deutschen heut? Du bist der Meister von Bayreuth!« Da war der Wagner-Rausch schon im Gange und Jean Paul, der andere Berühmte, der kaum Gelesene, im Schatten des Komponisten, nicht mehr als ein Denkmal, das man ihm nach nervendem Hin und Her 1841 endlich gestiftet hat.

Und so ist es im Grunde geblieben, auch wenn die Stadt in diesem Jahr stolz und mit beträchtlichem Aufwand beide feiert, den 250-jährigen Jean Paul und den 200-jährigen Wagner. Überall in der Stadt wehen die Fahnen mit ihren Porträts, und wer einen Blick ins Büchlein mit all den Jean-Paul-Veranstaltungen zum Jubiläum wirft, könnte glauben, man habe auf den guten Alfred Kerr endlich gehört. Ein Riesenprogramm wurde auf die Beine gestellt, Lesungen, Vorträge, Ausstellungen, Filme, Litfaßsäulen, Diskussionen die Fülle, ein Schüler- und ein Kompositionswettbewerb, eine Literaturnacht, eine geballte, staunenswerte Ladung Jean Paul, verteilt aufs ganze Jahr. Doch wer nach Bayreuth kommt, pilgert wohl immer noch erst einmal zum Grünen Hügel, wo das Festspielhaus steht, und spätestens Hugendubel in der Bayreuther Fußgängerzone stellt die alten Relationen wieder her. Zwei große Auslagen für Wagner, eine unten, die andere in der oberen Etage, nicht zu übersehen und vollgepackt mit Bücherstapeln. Nach Jean Paul indes muss man schon ein bisschen suchen. An einer Wand unter vielen anderen Novitäten hat er ein Plätzchen gefunden. Der junge Mann, der das Angebot zeigt, sagt, er habe gerade den »Siebenkäs« geschafft. Und man merkt, dass er ziemlich stolz auf sich ist.

Natürlich, heißt es in der Markgrafen-Buchhandlung ein Stückchen weiter am Sternplatz, ist Jean Paul mit seiner Empfindsamkeit und Gelehrtheit kein leichter Autor, nichts für Eilige, nichts für Ungeübte und Leser ohne Geduld für die vielen Vorreden, all die Abschweifungen, Einschübe und barocken Schwelgereien. Aber das heißt ja nicht, dass er für ein größeres Publikum verloren ist. Wer, wenn nicht der Buchhändler, könnte helfen, seinen Einfällen, seiner Fabulierlust, seinem Witz ein paar Freunde mehr zu gewinnen? Hier, in den Räumen des Ladengeschäfts, wo sich nicht die Bestseller türmen, wo das Sortiment noch literarischen Geschmack und Anspruch verrät, legt man sich seit Monaten kräftig für ihn ins Zeug.

Ein ganzes Schaufenster ist Jean Paul reserviert, auch drinnen ein ganzes Regal Jean Paul, alles Neue, dazu Antiquarisches, Bücher, die schon lange nicht mehr zu haben sind, sogar die schöne zehnbändige Hanser-Ausgabe ist da, die man so gut wie nie in einer Buchhandlung zu sehen bekommt. Der Verlag verkauft gerade mal neun bis zehn Exemplare im Jahr. Und oben ist zwischen Auslagen und Regalen ein kleines Lesekabinett entstanden. Ein Pult, davor ein großes Porträt des Autors und ein paar Stuhlreihen. Hier wird jeden Nachmittag um 17 Uhr einige Minuten lang Jean Paul vorgelesen, Romanszenen, Erzählungspassagen, Aphoristisches, Briefe, Kostproben aus einem Riesenwerk, um Lust zu machen auf diesen vor Fantasie schier berstenden Erzähler. Inzwischen haben gut dreitausend Leute zugehört.

Jean Paul, von den Damen seiner Zeit angehimmelt, ist später nie Liebling der Leser gewesen. Schon Ludwig Börne hat das mangelnde Leserinteresse beklagt und aufs zwanzigste Jahrhundert gehofft. Er war auch nicht Liebling der Biografen. Die stürzten sich bis in unsere Zeit vorzugsweise auf Goethe, Schiller und Kleist. Erst jetzt, zum Jubiläum, hat sich das schlagartig geändert. Gleich drei neue Biografien sind auf dem Markt, dazu das überarbeitete Jean-Paul-Buch Günter de Bruyns, 1975 erstmals erschienen und bis Anfang dieses Jahres ohne jede Konkurrenz.

Fast unbekannt auch der Briefschreiber. Den konnte man nur in der großen und teuren historisch-kritischen Ausgabe lesen, die Eduard Berend zu danken ist. Auch hier hat das Jubiläum für ein Wunder gesorgt. Nach beinahe hundert Jahren gibt es unter dem Titel »Erschriebene Unendlichkeit« wieder einen Band mit Briefen, hochwillkommen und dankbar registriert, erschienen in einer schlanken Dünndruckausgabe des Hanser-Verlags, fast achthundert Seiten Berichte, Bekenntnisse, Alltagsgeschichten, Klagen, Jubelrufe, Plaudereien eines wilden, wortmächtigen Autors, das alles von den Herausgebern überlegt ausgewählt und hilfreich kommentiert. Briefe waren für ihn Teile des Werks, dünnere Bücher, wie er bekannte, Schreiben, die man nicht nur einem anderen schickte, weil der nicht anwesend war. Im Januar 1807 gratulierte er schriftlich seiner Frau zum Geburtstag, die, schreibend wie er, ihm gegenüber am selben Tisch saß. »Es ist ein schöner Einfall«, erklärte er. »Unsere gegeneinander laufenden Federn begegnen sich immer in der Mitte wie immer die Menschen.«

Stets waren›s Enthusiasten, die sich für den Bayreuther Meister ins Zeug legten, die Liebhaber und glühend Begeisterten, die unermüdlich für ihn warben, ihn edierten und erklärten. Eduard Berend (1883 - 1973) war ihre Lichtgestalt, ein jüdischer Wissenschaftler, den die Nazis ins KZ Sachsenhausen warfen, der danach im Schweizer Exil lebte und in Marbach zuletzt seine Arbeit fortsetzte. Er hat mit der Herausgabe der Romane, Erzählungen, Schriften, Briefe und der Sammlung mit den Stimmen der Zeitgenossen über Jean Paul sein Lebenswerk gekrönt. Heute machen andere weiter. Sie sitzen meist abseits der großen Metropolen, am Zürichsee zum Beispiel, in der Villa zum Abendstern in Wädenswil, wo Robert Walser seinen Roman »Der Gehülfe« ansiedelte und wo Bernhard Echte, der vor Jahren mit Werner Morlang in mühseliger Arbeit Walsers scheinbar unlesbare Mikrogramme entzifferte, jetzt seinen Nimbus-Verlag betreibt, selbstbewusst, anspruchsvoll und mit ausgeprägter Leidenschaft für die Kunst. Und ein kleines Kunstwerk ist auch eine der zentralen Publikationen dieses Jahres, die von Echte und Petra Kabus verfasste Bildbiografie Jean Pauls, die erste, die es gibt, präsentiert in großer, attraktiver Klappenbroschur, liebevoll komponiert, üppig illustriert und mit Aufsätzen namhafter Jean-Paul-Kenner bereichert.

Ein wahrer und bewundernswerter Enthusiast auch er: Eberhard Schmidt, ein bärtiger Mann, der sich und uns, gemeinsam mit seiner Frau Karin, in Joditz an der Saale, wo Jean Paul Kindheit und Jugend verbrachte, ein privates Museum geschaffen hat, eine verblüffende, charmante Einrichtung mit fast allen Erstausgaben, Dokumenten, Bildern und einer Bibliothek von rund siebentausend Bänden. Wer will, kann sich anmelden, und dann führt der Hausherr durch die beiden Stockwerke des einstigen Weberhäuschens, zeigt seine Schätze, mit unendlicher Geduld zusammengetragen, redet und schwärmt, erzählt und zitiert zwischendurch ganze Jean-Paul-Passagen aus dem Kopf, und wenn alles mitgeteilt ist (oder sagen wir besser: das Wichtigste), geht‹s noch hinüber in die Kirche, wo der Vater des Dichters gepredigt hat, und dort zeigt der begeisterte Herr Schmidt auch noch eine weitere Seltenheit: eine Christusfigur mit entblößtem Hinterteil.

Natürlich hat auch Bayreuth sein Jean-Paul-Museum, 1980 eingerichtet im ehemaligen Wohnhaus von Wagners Tochter Eva (und ihrem völkischen Ehemann Houston Stewart Chamberlain) und bestückt mit der Sammlung des Arztes Philipp Hauser, 1994 beträchtlich erweitert, jüngst renoviert und umgebaut und am 21. März, dem Jean-Paul-Geburtstag, wiedereröffnet. Jetzt ist alles ganz neu und anders. Hinter einer Bücherwand ist in einer szenischen Installation die Schreibstube aufgebaut mit Tisch, Stühlen, Schränken, Büchern und Papieren, in Vitrinen stehen, aufgeschlagen, die Erstausgaben, an den Wänden und unter Glas Zitate und Bilder, in den großen Schubladen Manuskripte, Briefe, Zettel. Auch das letzte Porträt ist da: Jean Paul auf dem Totenbett, eine Zeichnung von Joseph Würzburger vom 15. November 1825. Am Abend zuvor war der Dichter gestorben.

Wenigstens hier, in diesem Haus, in dem er nie war, ist Jean Paul augenblicklich im Vorteil. Die Tür für Besucher ist weit geöffnet. Von der Villa Wahnfried seines Nachbarn Richard Wagner schräg gegenüber dringt dagegen Baulärm herüber. Sie wird, ausgerechnet jetzt, umfassend saniert.

Ich hatte, nach Büchern herumspürend, in der Leihbibliothek unserer Stadt einen Roman des Jean Paul in die Hände bekommen. In demselben schien mir plötzlich alles tröstend und erfüllend entgegenzutreten, was ich bisher gewollt und gesucht oder unruhig und dunkel empfunden … Diese Herrlichkeit machte mich stutzen, dies schien mir das Wahre und Rechte!
Gottfried Keller, 1854

Wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit war er ganz auf Gegenwart eingeschworen … Er versucht immer wieder, das rückständige, zerrissene Deutschland mit seinen verschuldeten Zwergfürsten und hungernden Schulmeistern zu gestalten.
Günter de Bruyn, 1976

Ich meine, er ist zuletzt doch der Erste Name der deutschen Zeiten, Jean Paul; Zugang zu ihm möchte man allen jenen bedauernswerten Lesern wünschen, die von der deutschen Literatur nur kennen, was aufs Zeitgenössische gekommen ist.
Hans Wollschläger, 1981

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