Von der Ausnahmestimme ist wenig geblieben
Joe Cocker enttäuschte mit seinem Auftritt am 20. Juli in Montreux
Die Fotografen wurden angewiesen, Cocker nur von der Seite abzulichten. Beinahe drohend klingt der Satz »no one in front of him« in den Anweisungen des Organisationsbüros. Doch auch im Profil wirkt Joe Cocker mit 69 Jahren deutlich älter als gleichaltrige Kollegen wie etwa Rod Stewart oder Mick Jagger. Seine einstmals gefeierte Ausnahmestimme ist nur noch in Ansätzen erahnbar. Er ringt um jede Silbe und gewinnt diesen Kampf nicht immer.
Er komme im Frieden und wolle einer Vision folgen, die ihn auf seine Mission geschickt habe – schon der Eröffnungstitel »I come in Peace« lässt nichts gutes ahnen. Schon 1997 hatte er in einem Interview zu Protokoll gegeben: »Im Stimmeverlieren habe ich Übung.« Und die traurigen Reste konnte man im Auditorium Stravinski beim letzten Konzert im offiziellen Programm des 47. Montreux Jazz Festivals hören. Besonders die tolle Box Tops Nummer »The Letter« – im Original einer der kürzesten und schnellsten Songs, die jemals auf Single gepresst wurde – wurde zur anstrengenden Hörprobe. Viel langsamer als der 1967-er Nummer Eins-Hit würgte sich Cocker durch die Zeilen und das ganze wurde mit belanglosen Saxophon-Einlagen gestreckt. Immerhin das Saxophon wurde von Norberto Fimpel live gespielt – andere Bläser kamen aus den Keyboards. Insgesamt konnte die Band überzeugen, bot allerdings keine musikalischen Spitzenleistungen.
Das Programm seiner aktuellen Tournee besteht aus einigen Titeln seines neuen Albums »FIre it up« und den Klassikern, die das Publikum im Zweifel auch alleine singen kann. Auf der Bühne helfen ihm Nichelle Tillman – sie gestaltet auch den weiblichen Part in »Up where we belong« – und Laura Jane Jones stimmlich aus. An manchen Stellen wird aber das ganz grobe Rettungsset zum Einsatz gebracht: Man nehme ein Saxophon, das die Singmelodie spielt, fülle den Klang weiter auf mit allen verfügbaren Stimmen – besonders die Bassistin Onieda James-Rebeccu fällt hier angenehm auf – und lasse den Altstar einfach krächzen.
Man sieht, dass sich Joe Cocker redlich Mühe gibt, er schwitzt und man fürchtet beinahe, dass jeder Ton den er aus den Tiefen seiner Kehle und mächtigem Einsatz holt, der letzte sein könnte. » I’ll be your doctor« – vielleicht sollte er selbst auf den Rat eines Arztes hören. Es fällt nicht ins Gewicht, dass er die herrliche Lennon-Nummer »Come together« in einer langsamen Fassung um ihre raue, ungeschliffene Aggressivität bringt. Die meisten Besucher in Montreux haben sich vorgenommen, sich den Abend noch schön zu tanzen. Bei »You can leave your hat on« und »Unchain my Heart« klappt das auch vorzüglich. Das Publikum in Deutschland hält dem Sänger seit Jahrzehnten die Treue und kauft brav seine Alben in die Top Ten – in seinem Geburtsland England findet er immerhin noch wahrnehmbare Ressonanz, in der Wahlheimat USA kam er letztmals 1974 mit dem Album »I can stand a little rain« in die oberen Etagen der Hitlisten. Entsprechend viele Deutsche waren an den Genfer See gereist und freuten sich über den Auftritt ihres Idols – die stimmlichen Schwierigkeiten nahmen sie eher gelassen hin. »Wir sind ja auch nicht mehr so jung wie 1969.« Bei »With a little help from my friends« zeigte er eine Ahnung seiner Luftgitarren-Choreographie – und das Publikum bejubelte jedes langgezogene »Aaaaaaaaaah« wie eine Offenbarung.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.