Linke Sprache, rechte Wirkung
Beim Putsch in Ägypten werden politische Begriffe neu besetzt
Ein Putsch ist ein Putsch? Unter Umständen. Ist ein Diktator ein Diktator? Kommt darauf an. A rose is a rose is a rose? Ja, darauf kann man sich wohl noch einigen. Im Politischen aber hat sich eine Umdeutung der Begriffe vollzogen. Putschisten setzen Demonstranten mit Wählern gleich. Journalisten erklären Putschisten zu Demokraten. Linke Aktivisten werden von rechten Eliten eingespannt. Und alle gemeinsam zeigen sie auf den einzig Gewählten und schimpfen ihn einen Diktator.
Beispiel für die neue Unbestimmtheit des politischen Vokabulars ist die sprachliche Behandlung des Militärputsches in Ägypten. Nur so kann man die Ereignisse vom 3. Juli bezeichnen. Und hat dieser Putsch nicht bereits vor zwölf Monaten begonnen? Schwer zu sagen, da über jene Zeitspanne nun gar nicht mehr oder polemisch berichtet wird.
Die »Süddeutsche Zeitung« findet manche Kritik an der »Entmachtung« des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi »seltsam legalistisch: Ein Präsident, der demokratisch gewählt ist, aber jede demokratische Kontrolle ausschaltet, ist kein Demokrat mehr.« Die Zeitung urteilt kühl, auf Seiten der Islamisten würden angesichts der Verhaftungswellen nun »Opferlegenden« gepflegt. Zudem hätten die Muslimbrüder »ihre Chance verspielt. Zur Demokratie gehören nicht nur der Wahlsieg, sondern auch die Teilung der Macht und das Risiko ihres Verlustes.« Das Risiko eines Coups als Bestandteil der Demokratie?
Der »Spiegel« stellt fest, dass die Muslimbrüder die »Demokratie als Trojanisches Pferd« genutzt haben, »um an die Macht zu kommen, dann versuchten sie, die Demokratie von innen zu zerstören«. Also mussten »die Massen ein populäres Verfahren einleiten«, um »Mursi loszuwerden.« Und zwar, weil es »in Ägypten kein Parlament gibt, das ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einleiten konnte«. Schließlich musste die Armee »intervenieren«, auch um »das wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ausbluten Ägyptens zu stoppen.«
Zur Einschätzung der Situation wären hier zwei Hinweise wichtig gewesen. Zum einen, dass es nicht Mursi war, der das Parlament aufgelöst hat. Es waren Verfassungsgericht und Militär, die sich zudem in Totalopposition befanden und monatelang praktisch keine Maßnahme der Regierung zugelassen haben. Hätte der Präsident dem nicht mit Dekreten Einhalt geboten - er hätte das Regieren auch einstellen können. Es sind jene Dekrete, auf die sich nun Mursis Ruf als »Diktator« gründet.
Zum anderen blutete Ägypten nicht zuerst wegen der Islamisten wirtschaftlich und sicherheitspolitisch aus, sondern weil Benzin gehortet wurde, weil Polizei und Verwaltung zu großen Teilen monatelang den Dienst verweigerten und Ägypten von internationalen Krediten abgeschnitten wurde. Vergleichbar der US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung, waren die alten Strukturen eher bereit, den Staatskollaps zu riskieren, als auch nur den kleinsten Kompromiss mit den gemäßigten Islamisten einzugehen. Seit dem Putsch patrouillieren wieder Polizisten, fließen die Milliardenkredite und sprudelt das Benzin aus den Zapfsäulen.
In den letzten zwölf Monaten wurde eine Regierung mit dem Rücken an die Wand gedrängt - mit Methoden, die von anderen Coups bekannt sind. Ein Ex-Mitarbeiter des ägyptischen Ministeriums für Energieversorgung sagte der »New York Times«: »Kräfte in der Verwaltung, die die Infrastruktur von den Lagerhäusern bis hin zu den Benzinlastern kontrollieren, haben die Krise geschaffen.« Laut »Spiegel« wurde die Protestbewegung Tamarod, die die Demonstrationen anführte, vom ägyptischen Milliardär Naguib Sawiris finanziert. Träfe das zu - es wäre das Tea-Party-Prinzip in Reinkultur: Arglose »Aktivisten« demonstrieren als nützliche Idioten für die Großkapitalisten.
Von den Entwicklungen der letzten Monate lesen wir heute in wütender Verzerrung. Wir werden bombardiert mit Ausschnitten des Ist-Zustandes, Quellenangaben werden nicht eingefordert. Das eröffnet ein Feld des Ungefähren, in dem man sich mit unbelegten Horrorbotschaften über die verjagte Regierung überbieten kann.
Neben den erwähnten Dekreten ist die von den Muslimbrüdern vorgelegte Verfassung zentrales Element der Versuche, den Putsch zu legitimieren. Laut »Welt« hatte diese bei einem »Referendum im Handstreich durchgepeitschte, islamistisch imprägnierte Verfassung« die Grundlage »für die Abschaffung der Demokratie gelegt«. Laut ARD sah sich die »von Islamisten dominierte Verfassungsversammlung scharfer Kritik ausgesetzt, weil sie die Einführung einer strikten Form der Scharia durchsetzen will, wichtige Grundrechte in ihrem Entwurf hingegen ignoriert«.
Will man jedoch erfahren, was tatsächlich drin steht in der Verfassung, muss man weit in der Vergangenheit suchen. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (FAZ) schreibt im Dezember 2012: »Die Präambel legt fest, dass die Souveränität vom Volk ausgehe, dass Ägypten ein demokratisches Regierungssystem mit friedlichen Machtwechseln, Pluralismus und fairen Wahlen habe.« Ferner wende sich die neue Verfassung vom Präsidialsystem ab und teile die Kompetenzen gleichmäßiger zwischen Präsident und Parlament auf. Künftig dauere die Amtszeit vier statt sechs Jahre, nur noch eine Wiederwahl sei möglich und: »Das Staatsoberhaupt verliert viele Kompetenzen.«
Das klingt nicht gerade nach Abschaffung der Demokratie oder nach einem Präsidenten mit Allmachtsfantasien. Die FAZ fährt fort: »Eindeutiger als bisher sind Grundfreiheiten gefasst. Die neue Verfassung garantiert die Versammlungsfreiheit.« Dasselbe gelte »für die Pressefreiheit; künftig bedarf es eines richterlichen Beschlusses, um ein Medium zu verbieten«. Neu sei auch die Formulierung, »dass die Presse ihre Aufgabe frei und unabhängig im Dienste der Gesellschaft (bisher stand der Staat im Vordergrund) leiste«. Gestrichen sei der Absatz, »dass eine Zensur der Presse aufgrund der nationalen Sicherheit zulässig ist«.
Auch dass viele der Mursi zur Last gelegten islamistischen Passagen der Verfassung dort bereits seit Jahrzehnten zu finden sind, erfährt man aus der hiesigen aktuellen Berichterstattung nicht. 2012 jedoch schrieb die »FAZ«, dass Artikel 2, der den Islam zur Staatsreligion und die Prinzipien der Scharia zur wichtigsten Quelle der Gesetzgebung erklärt, »aus der Verfassung von 1971 übernommen« sei: »Diese Bestimmung war Teil aller ägyptischen Verfassungen seit 1923.«
Bedenklicher als der dämonisierte Mursi-Entwurf ist der Umgang der Putschisten mit der Verfassung. Der lässt ahnen, wie wenig die meisten Demonstranten sich diese Art Umsturz gewünscht haben können. Laut »nd« fordert das Militär nun die Befugnis, künftig nach Gutdünken »zur Verteidigung der Revolution« einschreiten zu können. Jemand müsse die Demokratie beschützen, weil sie sonst jederzeit ausgehebelt werden könne. Wie gerade bewiesen wurde.
Kann man sich gegen die sympathischen Demon-stranten des Tahrir-Platzes wenden, darf man für einen Islamisten Partei ergreifen? Im Falle Ägypten lautet die Antwort eindeutig »ja«. Zum einen ist der Islam eine in Ägypten zu akzeptierende Realität, und die Muslimbrüder verkörpern die erträglichste verfügbare (!) Ausprägung. Zum anderen: Dass Mursi offensichtlich nicht in sein rechtmäßiges Amt zurückkehrt, dass die Empörung darüber ausbleibt, dass der Plan so geschmiert über die Weltbühne geht - all das schafft einen gefährlichen Präzedenzfall. Dieser könnte auch bei weiteren Staatschefs Anwendung finden.
Denn es gibt sie, die Demokratien, in denen putschbewährte Armeen bereitstehen - und wo erst kürzlich »das Volk« und die »Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten« »mehrheitlich«, »lautstark« und natürlich »via Twitter und Facebook« den Regime-Change einforderten, weil sie die nächsten Wahlen nicht abwarten wollen. Was manche Medien dann »Demokratiebewegung« nennen.
Hat jemand die Demonstranten in Ägypten gezählt? Nach welcher Methode? Wie repräsentativ ist eine »Twitter«-Revolution, wenn wie in Ägypten 70 Prozent der Menschen keinen Internetzugang haben, 30 Prozent nicht lesen und schreiben können? Aber die Armen tauchen in den meisten Berichten ohnehin nur noch als gesichts- und hirnlose Manövriermasse von ideologischen oder religiösen »Rattenfängern« auf. Die arrogante Vorstellung von der Mehrheit der Ägypter als mit »Wahlgeschenken« oder dem Koran ruhiggestellte Hammelherde ist auch in linke Kreise vorgedrungen.
Die sprachliche Verwässerung und politische Unbestimmtheit waren Merkmal und Erfolgsgeheimnis der »Facebook-Revolutionen«. Die verschiedenen Protestbewegungen würden also durch Konkretisierung der eigenen (linken?) Ziele Masse und Aufmerksamkeit verlieren. Andererseits zeigt das Beispiel Ägypten, wie wichtig es ist, zu wissen, wohin die Reise geht und mit wem man da eigentlich verbündet ist - bevor man die Welt aus den Angeln hebt.
Eine simple Rechnung: Die einzige reale Alternative zur gewählten Regierung Ägyptens war die nun triumphierende Koalition der alten Macht. Sie konnte die Muslimbrüder in aller Ruhe von links und mit Hilfe einer frech geheuchelten Anti-Diktator-Rhetorik angreifen - ohne Gefahr zu laufen, damit linke Politik zu befördern. Linke Parolen, rechte Wirkung. Diese Gleichung ist immer öfter zu beobachten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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