Trend zur Tarifflucht

Gutachten: Betriebe ohne Tarifbindung dürfen nicht in Handwerksinnung

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.
Wollen Handwerksbetriebe Mitglied in einer Innung werden, müssen sie sich an Tarifverträge halten, heißt es in einem DGB-Gutachten. Alles andere sei rechtswidrig.

Die öffentlich-rechtlichen Handwerksinnungen handeln rechtswidrig, wenn sie Betrieben eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) anbieten. Zu diesem Ergebnis kommt ein vom Deutschen Gewerkschaftsbund und der Hans-Böckler-Stiftung in Auftrag gegebenes Gutachten, das am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde.

Zwar hätten sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass tariffähige Unternehmerverbände unter bestimmten Umständen derartige Mitgliedschaften anbieten können, erläuterte Winfried Kluth, der Autor der Expertise. Auf öffentlich-rechtliche Körperschaften mit teilweise hoheitlichen Aufgaben sei dies aber keinesfalls übertragbar. Kluth lehrt an der Universität Halle-Wittenberg Öffentliches Recht und ist ferner als Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt tätig.

Handwerksinnungen sind branchen- und regionalbezogene freiwillige Zusammenschlüsse von Betrieben. Derzeit gibt es bundesweit rund 5000. Laut Handwerksordnung können die Innungen - in der Regel über Landesverbände - auch Tarifverträge abschließen. Sie unterliegen der Rechtsaufsicht durch die Handwerkskammern, für die eine gesetzliche Mitgliedspflicht, aber keine Tariffähigkeit besteht. Zu den Aufgaben der Innungen gehören unter anderem Beratungsangebote für die Mitgliedsunternehmen, Unterstützungskassen sowie die Mitwirkung bei der Aus- und Fortbildung in den Betrieben.

Kluth kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss, »dass die Einführung von OT-Mitgliedschaften zu einer grundlegenden Änderung der Mitgliederstruktur führen würde und deshalb mit der geltenden Rechtslage nicht zu vereinbaren ist«. Die Rechtsfähigkeit zum Abschluss von Tarifverträgen gehöre zu den »identitätsstiftenden Merkmalen der Innungen« und könne daher nicht durch Satzungsänderungen ausgehebelt werden. Die Koalitionsfreiheit der Betriebe werde durch diese Einschränkung nicht berührt, da die Mitgliedschaft in den Innungen freiwillig sei.

DGB-Vorstandsmitglied Dietmar Hexel kündigte an, dass man auf Grundlage des Gutachtens alle Landesregierungen und die Handwerkskammern auffordern werde, ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen und entsprechende Satzungsänderungen zu untersagen bzw. rückgängig zu machen. Ohnehin erweise sich das Handwerk einen »Bärendienst«, wenn es eine Erosion der Tariflandschaft unterstütze. Die »Schmutzkonkurrenz über Schleuderpreise und Dumpinglöhne« sei für viele seriöse Betriebe ruinös. Hexel geht davon aus, dass in Handwerksbetrieben ohne Bindung an den Branchentarifvertrag im Durchschnitt 30 Prozent weniger Lohn gezahlt wird. Man begrüße das klare Bekenntnis von Handwerkskammerpräsident Otto Kenztler zur Tarifbindung. Aber diesen Aussagen müssten »jetzt auch Taten folgen«. Für Hexel ist die Zukunft der Tarifbindung eine gesellschaftliche Kernfrage.

Stefan Lücking von der Böckler-Stiftung verwies auf den dramatischen Trend zur Tarifflucht im Handwerk. Nur noch in 42 Prozent aller Betriebe mit zehn bis 49 Mitarbeitern gilt eine Branchenvereinbarung. In den ostdeutschen Ländern sind es sogar nur noch 26 Prozent. 2003 betrugen die entsprechenden Quoten noch 55 bzw. 31 Prozent. Auch Helmut Dittke, der beim DGB-Bundesvorstand für Handwerkspolitik zuständig ist, hat beunruhigende Zahlen auf Lager. Nur vier der rund 2500 Betriebe des KfZ-Handwerks in Thüringen unterliegen noch der Tarifbindung. Und selbst im wirtschaftlich prosperierenden Bayern sind es nur 500 von 9500. Ferner gibt es einige komplett tariffreie Zonen, wie zum Beispiel das ostdeutsche Bäckerhandwerk.

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