»Ihr könnt nicht? Wir können!«
Arbeiter in Thessaloniki haben die Fabrik VIO.ME selbst in die Hand genommen
Die Krise treibt in Griechenland neben dem Sozial- und Demokratieabbau bereits seit Jahren auch ein Massensterben von Unternehmen voran. So wurden 2011 für jeden neu gegründeten Betrieb 2,5 Firmen geschlossen. 2012 kamen auf jede Neugründung nur noch zwei geschlossene Firmen. Pavlos Ravanis, Präsident der Athener Handwerkskammer, schätzte im April 2013, »dass ungefähr 60 000 Kleinunternehmen 2013 ihren Betrieb einstellen werden. Damit verlieren knapp 120 000 Menschen ihre Arbeit«. Das ist eine hohe Zahl in einem Land, in dem die Arbeitslosenquote mit etwa 30 Prozent zu den höchsten in der Eurozone zählt.
Doch von diesen Voraussetzungen ließen sich etwa 40 ArbeiterInnen in Thessaloniki im Norden Griechenlands nicht abschrecken: Sie besetzten die Fabrik, in der sie arbeiteten, und nahmen ihr Leben selbst in die Hand. VIO.ME (Viomichaniki Metalleftiki) wurde 1982 als eine von drei Tochterfirmen des Unternehmens Philkeram gegründet, das Keramikkacheln produzierte. VIO.ME stellte chemische Baumaterialien wie Fugenkleber her und lieferte seine Produkte ins gesamte Land sowie ins benachbarte Ausland. Von 2006 an galt die Firma als eines der 20 erfolgreichsten Unternehmen Nordgriechenlands. Doch von einem Tag auf den anderen machte sich die komplette Chefetage aus dem Staub, und im Mai 2011 meldeten die Besitzer - die Familie Filippou - Konkurs an.
Die Arbeiter organisierten Vollversammlungen und diskutierten über die Möglichkeit der Selbstverwaltung. Bald darauf wurde die Idee bei einer Abstimmung mit 97 Prozent der Stimmen angenommen. Wiedereröffnet wurde die Fabrik im Februar 2013, die Vollversammlung zum höchsten Gremium erklärt. Seitdem hat sich der Name der Fabrik VIO.ME rasant zu einem Symbol der Selbstorganisierung entwickelt. In der ersten Phase sollten die Waren, die noch im Lager waren, (geschätzter Wert 400 000 Euro) zu zwei Dritteln ihres bisherigen Preises versteigert werden. Damit sollte Startkapital gesammelt werden, um die teuren Maschinen in Stand halten und erste Rohstoffe einkaufen zu können. Vor allem die alte Kundschaft sollte aktiviert werden, darüber hinaus auch neue Kontakte in den Balkan geknüpft werden. Das geht allerdings nur, wenn das Unternehmen auf legalen Beinen steht. Und so fordern die Arbeiter eine gesetzliche Grundlage für kooperative Betriebsstrukturen. Daneben wollen sie die Unternehmensaktien erwerben, ohne die angehäuften Schulden übernehmen zu müssen und fordern von Staat und Europäischer Union Subventionen in Höhe von 1,8 Millionen Euro. Darüber hinaus soll der Mutterkonzern Philkeram die geliehenen 1,9 Millionen Euro an VIO.ME zurückzahlen.
Da der griechische Staat bis jetzt nicht mitspielt, eine Gesetzesvorlage in weiter Ferne gerückt ist und das gewünschte Startkapital nicht angesammelt werden konnte, wurde die ursprüngliche Produktion umgestellt. Seit April stellen die ArbeiterInnen mit Hilfe des Know-hows aus den selbstorganisierten Strukturen Thessalonikis nicht mehr Fugenkleber und Co., sondern umweltfreundliche Reinigungsmittel für den häuslichen Gebrauch her. Die Produkte werden in zahlreichen sozialen Zentren und auf informellen Märkten vertrieben. Der Vertrieb lief zunächst unter der Hand; seit dem 26. Juni, dem internationalen Aktionstag für VIO.ME, wird nun verstärkt die Legalisierung der Produktion propagiert.
Die Idee der Selbstverwaltung überlebt längerfristig nur, wenn weitere Menschen sich dem Vorhaben anschließen. Dies sagen auch die Arbeiter selbst. Makis Anagnostou, Vorsitzender der Basisgewerkschaft von VIO.ME, sagte gegenüber »nd«: »Hoffentlich entstehen viele solcher Inseln wie unsere.« Sie sollen sich entwickeln, größer werden und schließlich zu ganzen Kontinenten werden. »Wir wollen die ganze Welt.« Und tatsächlich: Immer mehr Vorgesetzte und Firmenbesitzer sehen sich dem den VIO.ME-Effekt ausgesetzt; Arbeiter üben Druck aus nach dem Motto: »Ihr könnt nicht? Wir können!«
Das Projekt findet auch außerhalb Griechenlands Unterstützung. Der Kollektivbetrieb informiert auf seiner Internetseite in mehreren Sprachen, veröffentlicht dort Unterstützer-Unterschriften von Prominenten und Organisationen und stellt Hilfsaktionen vor.
Inspiration fanden die ArbeiterInnen vor allem in Geschichten aus Argentinien: Eine Delegation der NGO »Working world« betreut in dem südamerikanischen Land ähnliche Arbeitskooperativen und hat VIO.ME schon im September 2012 besucht. Im Mai 2013 sorgte der Besuch von Naomi Klein für enormes mediales Aufsehen, und eine Veranstaltung mit ihr füllte den Hof den Fabrik.
Auch in Deutschland gibt es Griechenland-Solidaritätskomitees - beispielsweise in Köln und Berlin - und kürzlich hat sich die Initiative »Friends of VIO.ME« gegründet. Was diese über schriftliche Solidaritätsbekundungen und -transparente hinaus machen kann, soll im Herbst auf dem Festival der direkten Demokratie in Thessaloniki weiter diskutiert werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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