Leben nach dem Inferno
In Norduganda hat der langjährige Bürgerkrieg Spuren hinterlassen
Als das schwere Reetbündel brennend vom Dach herunterrutscht und den Ausgang versperrt, gibt es für Winston und seine Frau kein Entkommen mehr. Augenblicke später gibt das Dach nach und die gesamte Hütte steht lichterloh in Flammen. Eltern und Geschwister kommen herbeigeeilt, doch für Hilfe ist es bereits zu spät.
Es ist eine Szene, wie sie sich beinahe täglich abspielte im Norden Ugandas, damals, zwischen 1986 und 2006, im Krieg zwischen der ugandischen Armee und den Kämpfern der »Lord›s Resistance Army« (LRA, Widerstandsarmee des Herrn) unter dem Kommando des berüchtigten Joseph Kony. Als die Rebellen über die Dörfer herfielen, Häuser in Brand steckten und die Kinder raubten, um sie als Kindersoldaten gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen.
Uganda gilt heute als Musterschüler Ostafrikas. Das war wegen der gewaltvollen Vergangenheit lange nicht denkbar. Auch noch nicht nach dem Terrorregime des Idi Amin und den Gräueltaten unter Milton Obote, obwohl der neue Präsident Yoweri Museveni 1986 ein Maß an Stabilität und Rechtssicherheit nach Uganda brachte, das die Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg so schmerzlich vermisst hatte.
Doch die Präsidentschaft Musevenis hatte den Makel, dass sie mit einem Putsch begann. Er beendete die Dominanz der Acholi, der im Norden Ugandas vorherrschenden Ethnie, die seit der Unabhängigkeit des Landes 1962 andauerte. In der Folge setzte eine gewisse wirtschaftliche Prosperität im Süden Ugandas ein, wodurch sich die Acholi im Norden zunehmend an den Rand gedrängt fühlten - eine Situation, in der sich viele junge Acholi-Männer mit den vor den Putschisten nach Norden geflohenen Soldaten zu Widerstandsgruppen zusammenfanden.
Als hartnäckigste dieser Rebellengruppen erwies sich die LRA, die »Lord's Resistance Army« (Widerstandsbewegung des Herrn) unter dem charismatischen Ex-Offizier Joseph Kony, ebenfalls ein Acholi.
Kony konnten zunächst auf Unterstützung der lokalen Acholi-Bevölkerung hoffen, deren Interessen er zu vertreten vorgab. Das änderte sich bald, als die LRA, frustriert von ausbleibenden Erfolgen gegen die ugandische Armee, dazu überging, Gräueltaten an der eigenen Ethnie zu verüben. Dabei erwies sich die Taktik, Kinder zu entführen und als Soldaten einzusetzen, als besonders verheerend.
Anfang der 90er Jahre weitete sich der Bürgerkrieg in Norduganda zu einer Art regionalem Stellvertreterkrieg aus, zwischen Uganda und dem nördlichen Nachbarn Sudan. Die ugandische Regierung unterstützte die südsudanesische Rebellenbewegung der SPLA (»Sudanese People Liberation Army«) bei ihrem Kampf um Unabhängigkeit; die Regierung in Khartum antwortete mit finanzieller und militärischer Unterstützung Joseph Konys. Die LRA fand nun sichere Rückzugsgebiete im Süden Sudans und konnte von dort aus ihre mörderischen Feldzüge starten.
Der Frieden kam 2006, nach 21 Jahren, als der Bürgerkrieg im Nachbarland Sudan beigelegt wurde. Plötzlich hatte die Regierung in Khartum kein Interesse mehr an einer unkontrollierbaren Rebellenmiliz, die die südlichen Regionen des Landes und die Grenzregionen zu Uganda destabilisierte. Seitdem schweigen im Norden Ugandas de facto die Waffen. Kony und seine Rebellen haben sich zurückgezogen, vermutlich in die unzugängliche Grenzregion der Demokratischen Republik Kongo, Sudans und der Zentralafrikanischen Republik, wo sie sich angeblich durch den Handel mit gewildertem Elfenbein finanzieren.
Frank Odenthal
Doch die Geschichte von Winston und seiner Frau ist anders: Sie trug sich erst vor wenigen Monaten zu, im Februar 2013, sieben Jahre nach dem Ende des Krieges. »Sie kamen nach Einbruch der Dunkelheit«, erinnert sich Pauline Lamono, eine zierliche, gebeugte Frau in leuchtend orangefarbenem Kleid, die Großtante Winstons. Ihre Hütte stand der ihres Neffen am nächsten. »Alles geschah sehr schnell, aber ich erkannte zwei junge Männer, die einer benachbarten Familie angehören.« Die Nachbarn haben sich an Winston rächen wollen, davon ist sie überzeugt. »Sie behaupteten, er sei im Krieg an einem Massaker beteiligt gewesen, bei dem Angehörige der Nachbarsfamilie umgekommen waren. Aber das hatte mein Neffe immer bestritten. Er hatte mir geschworen, an keinen schlimmen Dingen beteiligt gewesen zu sein.«
Die Kindersoldaten, die aus den Fängen der Rebellenmiliz befreit wurden oder fliehen konnten, seien ein großes Problem gewesen, erklärt John Bosco Aludi, der damals als Sozialarbeiter für die Caritas im Einsatz war. »Sie kamen zurück in ihre Dörfer und berichteten von ihren Erlebnissen. Viele Familien erfuhren erst so von den Schicksalen ihrer vermissten oder getöteten Angehörigen - und sannen auf Rache.« Das habe dazu beigetragen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt, der »soziale Kitt«, allmählich erodiert sei.
»Heute herrscht in Norduganda ein Gefühl des Misstrauens, das allgegenwärtig ist«, so Aludi weiter. »Die Menschen misstrauen den Nachbarn, den Freunden, selbst den Familienangehörigen - den Behörden und der Regierung in Kampala sowieso.«
Es war einer der blutigsten und längsten Konflikte dieses an blutigen Konflikten nicht armen Kontinents. Die LRA unter Kony terrorisierte vor allem die Zivilbevölkerung im Norden Ugandas. Ihre Taktik: die Dörfer überfallen, morden, plündern. Die Kinder verschleppten sie, drückten ihnen Gewehre und Macheten in die Hände, schickten sie zurück in ihre Dörfer, wo sie unter Androhung des eigenen Todes zu furchtbarsten Massakern an den Bewohnern gezwungen wurden. Abhacken von Gliedmaßen, Abschneiden von Ohren, Nasen, Augenlidern, Ober- und Unterlippen gehörten ebenso zum Repertoire der LRA wie der Missbrauch junger Mädchen als Sexsklavinnen. Selbst kannibalische Exzesse sind überliefert und bestätigt. Wer den Kommandanten, die oft selbst minderjährig waren, nicht grausam genug erschien oder sonst irgendein Anzeichen von Schwäche zeigte, wurde erschossen oder vor den Augen der Kameraden bestialisch gefoltert.
John Bosco Aludi erinnert sich: »Die Menschen lebten in ständiger Angst vor den Überfällen der LRA. Die ugandische Regierung zwang sie, in die Schutzcamps der Armee zu ziehen, doch auch dort waren sie ständigen Angriffen der Rebellen ausgesetzt.«
Noch zu Kriegszeiten unterhielt die Caritas ein Auffanglager für geflohene Kindersoldaten nahe der sudanesischen Grenze. »Wer von der LRA fliehen konnte, brauchte zunächst dringend medizinische und vor allem psychologische Erstbetreuung. Viele der Jugendlichen waren suizidgefährdet und mussten stabilisiert werden«, erklärt Aludi, der mittlerweile Direktor der Caritas in Gulu ist. »Dann begannen wir damit, nach Hinterbliebenen zu suchen.« Denn, so der 39-Jährige, der selbst Vater dreier Töchter ist, es sei von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Rückführung, die Angehörigen und auch die Gemeinden auf die bevorstehende Rückkehr der ehemaligen Kämpfer vorzubereiten. »Alle unsere Mitarbeiter haben psychologische Schulungen durchlaufen«, sagt Aludi. »Allerdings spielen bei der Rückkehr der Kinder vor allem traditionelle Stammesrituale der Versöhnung eine entscheidende Rolle.«
Als der Frieden 2006 nach Uganda zurückkam, waren weite Teile der Gesellschaft traumatisiert. Und sind es bis heute. Die sozialen Strukturen erscheinen heute so porös wie die vielen Termitenhügel in Ostafrika. Gefühle von Ohnmacht und Lethargie, von Skepsis und Ablehnung sind weit verbreitet: gegenüber der Regierung in Kampala, der sie vorwerfen, nur die Bodenschätze im Sinn zu haben und den Norden des Landes ansonsten systematisch zu vernachlässigen; aber auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft, die es zuließ, dass einer der fürchterlichsten Konflikte des afrikanischen Kontinents über 20 Jahre auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen werden konnte. Es gibt praktisch keine Familie, die keine Opfer zu beklagen hätte. Mehr als 70 000 Menschen zwischen 14 bis 30 Jahren wurden im Krieg ihrer Familien beraubt und kehrten als Plünderer, Mörder, Folterknechte zurück in ihre Dörfer. Fast zwei Millionen Menschen wurden als Binnenflüchtlinge über das Land verstreut. Nun gehen sie wieder in ihre Heimat und müssen mit den Tätern von einst zusammenleben. Manchmal reicht schon ein vager Verdacht, ein Gerücht, um Racheakte unter Dorfnachbarn zu provozieren.
Von ähnlich großer sozialer Sprengkraft ist das Problem des Landbesitzes. Die Generation, die in den Camps groß wurde, kennt die traditionellen Markierungen der Grundstücke nicht. Ein Grundbuchamt existiert nicht, viele Dokumente, die Klarheit schaffen könnten, sind in den Kriegswirren verloren gegangen. So ist Streit um Grundstücksabmessungen an der Tagesordnung. Zudem versuchen Investoren aus Südostasien und den Golfstaaten, den Menschen das fruchtbare Land streitig zu machen. Sollten doch einmal Dokumente vorliegen, die die Eigentumsverhältnisse darlegen, bedarf es wenig, die Kleinbauern von ein paar ruchlosen Anwälten aus Kampala einschüchtern zu lassen oder korrupte Behörden auf Linie zu bringen.
Ein anderes Problem ist der Verlust des traditionellen Wissens um die Bewirtschaftung des Bodens. Die Menschen Nordugandas leben traditionell vom Ackerbau. Doch der jungen Generation, die in den Flüchtlingscamps geboren wurde und dort aufwuchs, wurde das traditionelle Wissen um die Landwirtschaft nicht mehr vermittelt. Sie kehren in ihre Dörfer zurück und bleiben auf die Mildtätigkeit der Nachbarn und internationaler Hilfsprojekte angewiesen.
Ohnmacht, so beschreibt es John Bosco Aludi, sei der vorherrschende Gemütszustand der heutigen Jugend im Norden Ugandas. Die jungen Männer, die vor ihren Hütten sitzen, selbstgebrannte Schnäpse trinken und vor sich hindämmern, haben sich längst ihrem Schicksal ergeben. Verantwortung für die Familie übernehmen die Frauen, im Haushalt, bei der Erziehung der Kinder und der Bestellung der Äcker. Vielerorts ist es an den Kindern, für tägliches Trinkwasser zu sorgen; vormittags kilometerweit zum nächsten Brunnen, nachmittags wieder zurück, beladen mit schweren Wasserkanistern. Schulpflicht besteht im Norden Ugandas nur auf dem Papier.
»Wir versuchen gegenzusteuern«, beeilt sich der Caritas-Leiter zu ergänzen, ohne dabei in allzu große Euphorie zu verfallen. »Wir führen Workshops durch, speziell für Frauen, für Jugendliche, für Senioren. Aber es wird noch Zeit brauchen.« Pauline Lamono hat an einem der Caritas-Seminare für Senioren teilgenommen - und ist mit leuchtenden Augen zu ihrer Familie zurückgekehrt. Es sei um die traditionelle Rolle der Alten gegangen, berichtet sie stolz. Begriffe wie »Richterfunktion«, »Schlichtung von Streitigkeiten«, »Rückgrat des Dorfes« und »Hüter der traditionellen Werte« seien gefallen; das habe sie optimistisch gestimmt. Jetzt habe sie beschlossen, die Ruine der Hütte ihres Neffen Winston abzureißen. Eines ihrer Enkelkinder brauche den Platz für eine neue Hütte.
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