Umbauen gegen die Midlife-Crisis

Ein halbes Leben Aufbruch, ein halbes Leben schrumpfen: Halle-Neustadt sucht vor seinem 50. Geburtstag einen neuen Plan

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Mieter im Quedlinburger Weg sind hart im Nehmen. Sie harren in ihren Wohnungen aus, während über ihren Köpfen das eigene Haus geschrumpft wird. Von fünf Etagen, auf die der Bau in Halle-Neustadt einst gewachsen war, sollen zwei verschwinden. Gewohnt hat dort ohnehin niemand mehr, sagt Ernst Isensee, Vorstand der Wohnungsgenossenschaft BWG Halle-Merseburg. Weil ein Fahrstuhl fehlt, hätten 40 von 100 Wohnungen leer gestanden. Für einen Vermieter ist das nicht lange tragbar. »Wir hatten zwei Alternativen«, sagt Isensee, »wegreißen - oder richtig etwas daraus machen.«

Wegreißen oder richtig etwas daraus machen - was für das Haus am Quedlinburger Weg gilt, könnte als Devise auch für Halle-Neustadt als Ganzes zutreffen. Die Großsiedlung feiert nächstes Jahr ihren 50. Geburtstag. Am 15. Juni 1964 war der Grundstein für das größte Stadtbauprojekt der DDR gelegt worden. Jetzt geht es der Stadt wie vielen Menschen kurz vor einem solchen Jubiläum: Sie blicken nicht ohne Stolz auf das halbe Jahrhundert zurück, aber wissen nicht genau, was die nächsten Jahre bringen und was sie mit diesen anfangen sollen. Es mischen sich Euphorie und Sorge, Orientierungslosigkeit und der Wille, noch einmal durchzustarten. Die Psychologie hat einen Begriff für das Phänomen geprägt: Midlife-Crisis.

In Halle-Neustadt kann die Gefühlslage nicht verwundern. Die Stadt galt einst quasi als Überflieger. Nicht nur war ihre erste Lebenshälfte von rasantem Wachstum geprägt: Bis zu 97 000 Menschen, die meisten von ihnen Beschäftigte großer Chemiekombinate, lebten hier zeitweise. Halle-Neustadt, das bis 1990 eigenständig blieb, war aber nicht nur schlicht eine Wohnsiedlung. Die Stadt entstand, schreibt der Soziologe Peer Pasternack in einer Studie zur Ideengeschichte von Halle-Neustadt, als ein »exemplarisch gedachter Bestandteil eines Gesellschaftsprojektes«. In dieser neuen, sozialistischen Stadt sollten, so stand es in den Grundsätzen für ihren Aufbau, die »Einheit von Ökonomie, höchster Technik, größter Zweckmäßigkeit und einem hohen Grad künstlerischer Ausdruckskraft« vereint werden.

Dann war die DDR am Ende, und Halle-Neustadt wurde quasi von einem Tag auf den anderen von der Modellstadt zum Schmuddelkind. Ein Gutteil der Bewohner verlor die Arbeit. Wer blieb, hatte oft nicht viel zum Leben; viele andere zogen auf der Suche nach besseren Perspektiven ganz weg. Auf rasantes Wachstum folgte eine schwindelerregende, ungeplante Schrumpfung. Heute ist Halle-Neustadt, mittlerweile zum Stadtteil von Halle geworden, noch Heimat für 44 600 Menschen.

Immerhin, könnte man sagen. Denn dass zum 50. Jubiläum hier überhaupt noch Leben herrscht, hätte mancher in den 90er Jahren nicht geglaubt. Damals gab es düstere Szenarien für die DDR-Plattenbaugebiete. Von Verwahrlosung und Gettobildung war damals oft die Rede. »Diese negativen Prophezeiungen«, sagt Lars Loebner, Leiter des Fachbereichs Planen im Rathaus Halle, »sind aber zum Glück nicht eingetroffen.«

Dass es so kam, ist vor allem Menschen zu verdanken wie den sehr duldsamen Mietern im Quedlinburger Weg: dem harten Kern derjenigen, die einst als erste Mieter nach Halle-Neustadt zogen, die sich als junge Menschen nicht von schlammigen Gehwegen und fehlenden Kaufhallen beirren ließen und die als Rentner auch die Zumutungen einer Sanierung klaglos erdulden. Viele von ihnen sind im Viertel geblieben und mit ihm gealtert, weshalb der Altersdurchschnitt mit 49 Jahren um zwei Jahre über dem Hallenser Mittelwert liegt. Für die Zukunft des Stadtteils, sagt Loebner, wird nun entscheidend sein, »wer auf die Erstgeneration folgt«. Geklärt werden solle die Frage, »für wen der Stadtteil da ist« - und was dessen künftige Identität ist.

Über diese Frage wird im Jubiläumsjahr viel nachgedacht in Halle-Neustadt. Geplant ist eine »Planungszelle«, bei der Einwohner in Bürgerkonferenzen Ideen für ihren Stadtteil entwickeln sollen. Stattfinden wird auch ein Workshop mit Studenten aus Deutschland, Polen und Belgien, von dem man sich unorthodoxe Lösungen erhofft. Angesetzt ist schließlich für Oktober sogar eine Konferenz mit bundesweiter Ausstrahlung - schließlich stehen vor den Problemen von Halle-Neustadt auch viele andere Plansiedlungen in Ost- wie Westdeutschland.

Schlecht sind die Voraussetzungen nicht. Zum einen wurden in den 25 Jahren seit dem Ende der DDR manche frühere Defizite bei der Infrastruktur beseitigt. In Halle-Neustadt gibt es jetzt mehr als früher auch Einkaufszentren und Ladenpassagen, die sogar Bewohner benachbarter Viertel anziehen; dazu Hotels, ein Kino und Sportanlagen. Der Stadtteil ist zudem, wie vor allem der Blick von oben beweist, sehr grün: In den Innenhöfen der Häuser ebenso wie entlang der Magistrale, die quasi Lebensnerv des Stadtteils ist, stehen viele zu stolzer Größe gewachsene Bäume. »Eigentlich«, sagt Jo Schulz, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Stadtumbau, »lässt es sich prima leben hier.«

Zunehmend gilt das auch für die Wohnungen selbst. Dominierte einst etwa in den Beständen der Wohnungsgenossenschaft BWG der Einheitstyp P2, so ist Monotonie heute Fehlanzeige. Viele der Plattenbauten sind nicht wiederzuerkennen. Die Fassaden sind wärmedämmend verkleidet und bunt, die Balkone vergrößert, die grünen Innenhöfe mit Grillecken oder Spielwiesen für Kinder sowie für Hunde ergänzt. An viele Häuser wurden Fahrstühle angebaut. 13 Millionen Euro, sagt Vorstand Ernst Isensee, hat die Genossenschaft binnen vier Jahren in barrierefreie Zugänge investiert und dabei unorthodoxe Lösungen entwickelt. So sollen an einem Block die oberen Etagen über vorgesetzte Laubengänge besser zu erreichen sein. In viele Parterrewohnungen gelangt man bequem über Rampen - und zwar mit dem Rollator ebenso wie mit dem Kinderwagen, betont Isensee. Überhaupt spricht der BWG-Vorstand nicht gern von altersgerechtem Umbau, sondern lieber von »demografiefestem« Wohnen.

In solchen Begriffen klingt an, worauf die Hoffnungen der Planer und Vermieter in Halle-Neustadt ruhen: auf jungen Familien. Die BWG etwa sorgt sich zwar um das soziale Leben ihrer betagten Mieter und bietet Kreativnachmittage oder Kaffeekränzchen für Rentner an. Zugleich aber hat sie eine alte Turnhalle zu einer Art überdachtem Abenteuerspielplatz umgebaut, der bei Familien mit Kindern ein Renner ist. Auch auf anderen Wegen wirbt die Genossenschaft mehr oder weniger subtil vor allem um diese Klientel: Statt Imageanzeigen zu schalten, verteilt man Obstboxen an Schulanfänger.

Ob solche Konzepte aufgehen, muss sich zeigen. Noch gelingt es allenfalls in einigen Teilen von Halle-Neustadt, den Rückgang der Bevölkerung zu bremsen oder hin zu zaghaftem Wachstum zu drehen. Im nördlichen Teil habe es zuletzt sechs Prozent Zuwachs gegeben, sagt Planer Loebner, dagegen gebe es im Süden weiter »erhebliche Verluste«. Insgesamt lag das Minus in den zurückliegenden beiden Jahren bei zwei Prozent - deutlich weniger als die prognostizierten sieben Prozent, aber weiterhin zu viel. Noch immer stehen in Halle-Neustadt auch 8000 Wohnungen leer - und das, obwohl schon 4500 abgerissen wurden.

Selbst wenn man eine Reserve von 5000 Wohnungen behält und so Fehler wie in Dresden und Leipzig vermeidet, wo nach Rückbau in großem Stil nun der Wohnraum knapp und teuer wird, steht daher fest: Ohne weiteren Abriss bleibt es teuer für Eigentümer und Mieter. Allerdings ist derzeit nicht nur in Halle unklar, ob weiter abgerissen werden kann. Eine Regelung, wonach Vermieter im Gegenzug von DDR-Altschulden befreit werden, läuft 2013 aus. Bleibt es dabei, sagt Roland Meißner, der Direktor des Verbands der Wohnungsgenossenschaften Sachsen-Anhalt, »werden wir uns nicht mehr beteiligen«. Thomas Webel, CDU-Landesminister für Städtebau, verweist auf ein Gutachten, das der zuständige Bund in Auftrag gegeben habe: »Danach will Berlin mit den Ländern noch einmal reden.« Sicher aber ist derzeit nichts.

In Halle-Neustadt hat nicht zuletzt das Überangebot an Wohnungen zur Folge, dass die Mieten äußerst günstig sind - was für viele der Hauptgrund ist, in den Stadtteil zu ziehen. Maximal 5,50 Euro kalt je Quadratmeter verlangt etwa die BWG, anderswo ist es noch weniger. Das zieht vor allem Menschen an, die sich höhere Preise nicht leisten können: Familien, in denen zwar beide Partner arbeiten, aber ihr niedriges Einkommen vom Arbeitsamt aufstocken lassen müssen, oder Migranten. Vom Szenario eines »sozial durchmischten Stadtteils«, den Experten wie Jo Schulz vom Kompetenzzentrum beschwören, scheint Halle-Neustadt noch ein Stück weit entfernt.

Andererseits aber gilt nicht nur am Quedlinburger Weg: Der Umbau ist in vollem Gange. Und in einer Zeit, in der selbst 75-Jährige noch Trendsportarten erlernen, muss auch ein Stadtteil mit 50 Jahren längst nicht an ein baldiges Ende denken. Jo Schulz jedenfalls kann sich vorstellen, dass es »irgendwann wieder als richtig cool gelten könnte, in Halle-Neustadt zu wohnen«.

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