Kairo und das digitale Ende der Menschlichkeit
Es gibt entspanntere Zeiten in der Online-Redaktion, als jene, in denen islamische Länder in Gewalt versinken. Nicht weil die Nachrichten über Tote und Verletzte kein Ende zu nehmen scheinen. Es ist die Menschenverachtung der Meinungsäußerungen in User-Kommentaren, die frustriert.
Während die Agenturen gefühlt minütlich höhere Opferzahlen aus Ägypten vermelden, freuen sich in Kommentarspalten, auf Facebook und Twitter Leser über »Islamisten, die nichts besseres verdient« hätten. Darüber, dass es »dem Al-Qaida-Ableger recht geschieht«, liest man. Religionskritische Marx-Kalauer werden zur Rechtfertigung eines Massakers herausgekramt. Kampffloskeln gegen Islamis(mus) (besser: was man dafür hält) werden beschworen. Auch die Legitimation des Mordens angesichts des angeblich »drohenden Totalitarismus«, findet sich.
Was größtenteils ausbleibt: Bekundungen von Trauer, Mitgefühl, Betroffenheit, Anteilnahme. Zur Erinnerung: In Ägypten sterben Menschen – sonst nichts. Große und kleine. 14-jährige und 70-jährige. Frauen, Männer, Kinder, Anwälte, Optiker. Linke und Unpolitische. Menschen im Gras und Menschen auf Fahrrädern. Menschen, die für ein besseres Leben stritten und Menschen, die es Anderen nehmen wollten. Menschen, die auf vom Weg zum Bäcker waren. Menschen, die auf eine bessere Zukunft hofften. Menschen, die zu Hause schmerzlich vermisst werden. Menschen, die nicht vorhatten zu sterben.
Es sind die gleichen Menschen wie hier
Der »Islam« scheint für viele deutsche Facebook-User wesensbestimmender als für ägyptische Demonstranten
Dass dies zwischen aller Empörung über reale oder vermeintliche politische Missstände vergessen wird, ist nicht ungewöhnlich. Doch speziell in der digitalen Anonymität haben Viele die Mitleidlosigkeit zum politischen Selbstverständnis erhoben. Speziell die Positionierung zum »Islam« , scheint für viele Kommentatoren wesensbestimmender als für die Demonstranten in Kairo. Auch die Frustration von Menschen im Nahen Osten ist vielschichtig, dreht sich um hohe Mieten und gestiegene Brotpreise, gebrochene Wahlversprechen und persönliche Schicksalsschläge.
Dazu muss man keine Ahnung von der Geschichte der Muslimbrüder, kein Buch über die Zusammensetzung der ägyptische Gesellschaft gelesen haben. Es reicht zu akzeptieren, dass Menschen immer Menschen sind – mit Sehnsüchten und Ängsten, Hoffnungen und Vorurteilen.
Das Problem begrenzt sich freilich nicht auf Ägypten - wie auch. Diskriminierung und Vorurteile bestimmen sich immer über die Befindlichkeiten des Täters, nicht des Opfers. Je tiefer dessen ideologischer Graben, umso mehr verschwindet das Mitgefühl. Je schlechter die Sicht auf die Realität, desto stärker die Meinung.
Tote Menschen werden zu Projektionsflächen
Wer das Glück hat, zu jener Minderheit zu gehören, die nun nur ahnungslos den Kopf schüttelt, kann ganz einfach den Test machen: Posten Sie einmal auf einer (am besten gut frequentierten) Facebook-Seite einen mitfühlenden Beitrag über die Opfer eines Assad-Luftangriffs und warten Sie auf die Reaktionen.
Relativ schnell wird Sie ein Kommentator als Unterstützer syrischer Islamisten brandmarken. Ein paar Stunden später sind die Diskussionen und gegenseitigen Beschimpfungen in vollem Gange: Wer nun der schlimmere Unterstützer von Faschismus, Imperialismus, Islamismus sei. Das Ganze funktioniert natürlich auch andersherum mit den Opfern syrischer Rebellen: »Du Assad-Propagandist!«. Die eigentlichen Toten werden zu Instrumenten, zu Projektionsflächen für die Bestätigung der eigenen politischen Sicht. Mitleid erhalten sie nur selten.
Manche Kommentatoren sind so zu Spezialisten exklusiver Empörung geworden. Bevor das erschreckende Video über die Mutter in Gaza verbreitet wird, die an der Seite ihres toten Sohnes weint, muss sichergestellt sein, dass hier das Verbrechen israelischer Soldaten und nicht doch jenes palästinensischer Milizen zu sehen ist. Oder andersherum. Betroffenheit gilt nur für Auserwählte.
Passt der tote Israeli, Alawit, Salafist, Säkulare, Christ, Demonstrant, Ägypter, Rebell nicht in die eigene Weltsicht, findet sein Tod im besten Fall nicht statt (»die Zahlen aus Kairo sind noch sehr unsicher«), ist bedauerlich ABER (»die Muslimbrüder haben doch die Demokratie abgeschafft«) oder wird gerechtfertigt (»Revolutionen sind immer blutig«). Mehr noch: Selbst im Tod wird der »falsche Tote« noch zum Täter, da er mit seinem Tod der gegnerischen Propaganda diene.
Anstatt Widersprüche auszuhalten, wird umgedeutet
Bei Vielen Kommentatoren bestimmt nicht das Unrecht in der Welt das Denken, sondern das »Denken« definiert, was Unrecht sein darf. Anstatt Widersprüche aufzuarbeiten wird umgedeutet. Anstatt Unbequemes dadurch auszuhalten, dass unterm Armeestiefel eben doch jeder Kemalist, Zionist, Pazifist, Baathist, Stalinist zum armen Hund wird, wird ignoriert und geheuchelt bis es passt.
Dass es zu diesem ideologischen Inzest eine Alternative gibt, zeigten vor zwei Monaten die Proteste in der Türkei. Denn im Gezipark war es zuerst die Gewalterfahrung und dann erst die politische Weltsicht, die Menschen zur Solidarität einte. Der Protest in dem Park, indem das erste Zelt Islamisten gehörte, Kemalisten den Parkschutz organisierten, Kurden das Essen verteilten und Anarchisten das W-Lan einrichteten, speiste sich aus der Ohnmacht gegenüber Tränengas und Polizeiknüppeln. Aus der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit. Aus dem gemeinsamen Menschsein.
Zu humanistisch, zu widersprüchlich klingt das vielleicht in den Ohren vieler deutschsprachiger Online-Kommentatoren. Auch auf dieser Website freute man sich stattdessen über das »Bündnis aus linken Säkularen«, das sich der »drohenden Islamisierung« entgegenstellte.
In Ägypten ist die Zahl der Toten mittlerweile auf über 700 gestiegen. Ob der Autor dieses Textes jetzt »die Muslimbruderschaft untersützt, die doch überall als Terroristen bekannt« seien, fragt einer auf Facebook. »Her yer Taksim« - »Überall ist Taksim« war einer der Slogans im Gezipark. Hier ist er auf jeden Fall nicht.
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