Kurzschlüssige Behauptungen

Ist das die finale Krise des Kapitalismus? Eine Erwiderung auf Manfred Sohns »Epochenbruch«

  • Wolf Stammnitz
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Welt stehe »vor dem Epochenbruch«, hat Anfang August der Linken-Politiker Manfred Sohn hier geschrieben und erläutert, warum die gegenwärtige Krise seiner Meinung nach keine »normale« ist und was das für die gesellschatfliche Linke heißt. Alban Werner hat darauf geantwortet - mit dem kritischen Hinweis, dass wir »noch nicht am Ende der kapitalistischen Fahnenstange« sind. Wir setzen die Diskussion an dieser Stelle fort.

Der Landesvorsitzende der niedersächsischen Linkspartei Manfred Sohn hat die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise in den Zusammenhang der allgemeinen, »finalen« Krise vor dem Ende des kapitalistischen Systems gestellt.

Sehr zu Recht, wie ich finde. Tatsächlich offenbaren alle aktuellen Krisensymptome die dramatisch eskalierenden Schwierigkeiten des Kapitals, sich zu verwerten. Sie bestätigen die von Karl Marx erforschte Gesetzmäßigkeit, dass jeder Produktivitätsfortschritt das Kapital zwingt, lebendige Arbeit durch »vergangene, tote« Arbeit (Maschinen, Technik) zu ersetzen, aus dem Wirtschaftskreislauf hinauszudrängen und sich damit selbst die Quelle seiner Vermehrung abzugraben.

Es verschafft den antikapitalistischen Kräften einen starken Impuls zur strategischen Klärung, dass endlich einmal ein namhafter Exponent der LINKEN, gegen all die anderen, die Marx schon vor Jahrzehnten »überholt« haben, auf diese innere Schranke des Profitsystems hinweist, an der es über kurz oder lang scheitern muss. Man dürfte einen bekennenden Marxisten und Landesvorsitzenden einer vielfältig praktisch tätigen Partei wohl kaum ernsthaft verdächtigen, er empfehle als Konsequenz aus dieser Krisensicht, mit den Händen im Schoß abzuwarten, bis das ganze kapitalistische Gebäude im »großen Kladderadatsch« in sich zusammenfällt. Und doch, über die Absage an reformistische Hoffnungen auf fette Arzthonorare am »Krankenbett des Kapitals« hinaus bleibt dieser Rekurs auf Marx seltsam folgenlos für die linke Strategie.

Das hängt zusammen mit seiner kurzschlüssigen, so nicht haltbaren Behauptung, der Kapitalismus habe nun keine Methoden mehr, den Fall der Profitrate aufzuhalten und damit den finalen Crash hinauszuzögern. Er nennt derer Methoden drei, von denen seiner Meinung nach keine mehr zur Verfügung stehe:

Ein »großer Krieg« als Mittel gegen die große Krise scheidet in der Tat seit der Existenz von neun Atommächten aus, richtig. Ich halte dagegen: Aber auch die Rüstungsproduktion für weltweite lokale und regionale Kriege um Rohstoffe, Märkte, Aufstandsbekämpfung, »Friedenserzwingung« usw. kann die Profitraten der kapitalistischen Zentren zeitweise stabilisieren. Das wäre genauer zu untersuchen.

»Die großen Erfolge der Arbeiterbewegung«, vom Zehn-Stunden-Tag bis zum Realsozialismus, die die Massenproduktion des Industriezeitalters erst ermöglichten, sie endeten mit der großen Niederlage von 1989. Richtig. Ich halte dagegen: Aber das schließt natürlich für die Zukunft nicht aus, dass soziale Bewegungen im Kampf um ein besseres Leben neue Reformen durchsetzen, die ebenso belebend auf die kapitalistische Wertschöpfung wirken, wenngleich immer nur vorübergehend.

Während früher große Krisen zur Erschließung neuer Märkte und Produktionszweige führten – »industrielle Revolutionen« – seien derlei Auswege heute nicht mehr in Sicht, behauptet Sohn. Weder die Elektronik noch der Dienstleistungssektor können das gigantisch angeschwollene Kapital aufnehmen, das heute nach Verwertung giert. Auch die hybrid aufgeblähte, entfesselte und scheinbar verselbständigte »Finanzindustrie« bietet keine Krisenlösung, da reale Werte nur in der materiellen Warenproduktion durch lebendige Arbeit entstehen. Das ist alles richtig. Ich halte dagegen: Aber es schließt nicht aus, dass noch eine ganze Weile Kredit- und Spekulationsblasen die Profitraten der globalen Riesenkonzerne stabilisieren und so auch die Krise der Realwirtschaft weiter hinausschieben, unter anderem durch Plünderung der Staatshaushalte, Sozialversicherungen usw. Ebenso wenig dürften wir ohne nähere Prüfung bestimmte Zukunftstechnologien (zum Beispiel für Klimaschutz, Energieeffizienz, gentechnische Landwirtschaft, Raumfahrt und andere) von vornherein als bedeutungslos abtun.

Ausgeklammert bleiben bei Manfred Sohn leider alle Bestrebungen der Unternehmer, die Ausbeutung der Noch-Arbeitenden mithilfe verschärfter gesetzlicher Rahmenbedingungen zu steigern, wie zum Beispiel die Ausdehnung des Niedriglohnsektors, der befristeten und Leiharbeit mithilfe der Hartz-Gesetze usw. All das verzögert den Fall der Profitrate und droht uns natürlich auch in Zukunft, solange die Arbeiterklasse noch nicht wieder stark genug ist, solche Anschläge abzuwehren.

Nicht erwähnt hat Sohn auch den Faschismus, der sowohl mittels brutalster Unterdrückung, Entrechtung und schrankenloser Ausbeutung der Arbeiterklasse als auch durch Zwangskartellierung der Wirtschaft – Einschränkung der Konkurrenz, Regulierungen zugunsten des Monopolkapitals – die Profite vorübergehend steigern kann. In eine heutige antikapitalistische Strategie ist unerlässlich die Gefahr einzubeziehen, dass das Kapital erneut – und nicht nur in peripheren Ländern wie Chile, Griechenland, Türkei… - versuchen wird, mit einem Wechsel der politischen Herrschaftsform seine finale Krise hinauszuschieben.

Die kritische Sicht auf Manfred Sohns begrüßenswerten Denkanstoß führt mich zu einigen Schlussfolgerungen, die teils mit ihm übereinstimmen, teils abweichen.

1. Ja, das kapitalistische Weltsystem muss und wird unvermeidlich zerfallen. Die gegenwärtige Krise ist eine Erscheinungsform des Systemzerfalls.

2. Der Zerfallsprozess kann sich über viele Jahrzehnte hinschleppen, von Krise zu Krise in jeweils verschiedenen Ausprägungen, mit wechselnden regionalen Brennpunkten, von zunehmender Verelendung auch in den kapitalistischen Kernländern über Verödung weiter Landstriche, vorübergehende Sonderkonjunkturen und Erholungsphasen, verschiedenen antidemokratischen Barbareien (Faschismen, Demagogenregimes, religiösen Sekten usw.) bis zum chronischen Ausnahmezustand.

3. Der »Epochenbruch« hat schon begonnen – wenngleich in Europa nach dem ersten sozialistischen Großversuch unterbrochen. Er zieht sich ebenso über Generationen hin und bringt überall unterschiedliche gesellschaftliche und politische Formen hervor, von zeitweisen Linksregierungen und »neuen Demokratien« über Inseln solidarischer, ökologischer Selbsthilfe und Selbstverwaltung bis zur schließlichen In-Besitznahme brachfallender Produktionsmittel durch die lebendige Arbeit.

4. Die alten Industriestaaten hätten zwar die günstigsten Bedingungen für einen raschen Übergang zum Sozialismus – hoher Entwicklungsstand der Produktivkräfte, starke, gut ausgebildete, disziplinierte und erfahrene Arbeiterklasse, effiziente staatliche und gesellschaftliche Organisationen – aber hier ist die Macht des Kapitals besonders stark konzentriert und hegemonial verankert, daher die Gefahr groß, dass hier die Arbeiterklasse sich noch besonders lange an den kleinen Finger »ihrer« Bourgeoisie klammert und sich erst spät den antikapitalistischen Kräften anschließt. Darunter wird die LINKE noch lange zu leiden haben!

5. Eine der wichtigsten aktuellen wie permanenten Aufgaben der antikapitalistischen Strategie ist demnach, darum zu kämpfen, dass unsere Arbeiterklasse und das einschlägig vorbelastete deutsche Kleinbürgertum sich nicht für vermeintliche chauvinistische oder rassistische Krisenlösungen zum Schaden anderer Nationen missbrauchen lassen.

6. In der Tat ist es in dieser Großwetterlage eine zentrale Aufgabe der LINKEN, sich ein fundiertes, wissenschaftlich abgesichertes Verständnis des ganzen »Epochenbruchs« weltweit zu schaffen. Denn wer maßt sich an, eine so gewaltige Menschheitsleistung wie die Überwindung der (bis gestern) fortgeschrittensten Produktionsweise und Gesellschaftsformation durch eine neue praktisch zu bewerkstelligen, ohne zu verstehen um was es geht? An Marx führt uns kein Weg vorbei.

7. Weil das große Kapital noch einige Möglichkeiten in petto hat, sein Ende zu verzögern, lässt sich der Fortgang der Krise aber nicht exakt vorhersagen. Im voraus können wir nur allgemein bestimmen, wie linke Strategie auf welche Wendung, so sie denn eintritt, reagieren müsste, und zwar auf Grundlage des reichen Erfahrungsschatzes aus den früheren Klassenkämpfen. Diese gründliche Vorbereitung ist heute schon unverzichtbar für eine LINKE, die ihren historischen Aufgaben gewachsen sein will.

Wolf Stammnitz, Jahrgang 1939, ist in Nordrhein-Westfalen politisch aktiv und gehörte dem Linken Bündnis Dortmund an.

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