Der umkämpfte GOETHE
Richard Friedenthal publizierte vor fünfzig Jahren sein erfolgreichstes Buch
Die Aufregung überstieg alles Vorstellbare. Zustimmung auf der einen, wütender, beißender Protest auf der anderen Seite. Die Zeitung bebte. Im Feuilleton der Fortsetzungsabdruck, Tag für Tag, 117 Mal, und weiter hinten das Echo, das hitzige Leserbriefgewitter, Lob und Verteidigung, Ablehnung und Empörung. Die Gegner in der Überzahl. »Wie kommt ein Herr aus London dazu, uns unseren Goethe madig zu machen?«, fragte eine Frau. So milde formulierten wenige. Auslöser der Debatte war, heute kaum vorstellbar, eine neue Goethe-Biografie, geschrieben für englische Leser, übernommen vom Münchner Piper-Verlag und in der Tageszeitung »Die Welt« zwischen dem 4. Mai und dem 20. September 1963 vorabgedruckt.
Der Mann, der das Buch geschrieben hatte und sich plötzlich im Zentrum einer heftigen Debatte sah, war kein Unbekannter. Er hieß Richard Friedenthal (1896-1979), war Sohn eines jüdischen Mediziners und Anthropologen, hatte als Lektor und Herausgeber gearbeitet und sich 1938, seit 1933 mit Berufsverbot belegt, nach England gerettet. Er hatte drei Gedichtbände publiziert, Essays, Erzählungen und Romane geschrieben, war Vorsitzender des Londoner Exil-PEN gewesen und später Vizepräsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik. Seit 1954 lebte er wieder, nach kurzem Münchner Gastspiel, in der britischen Metropole. Er war der Nachlassverwalter seines Freundes Stefan Zweig (dessen unvollendeten Balzac-Roman er 1946 herausgab), veröffentlichte Bücher über Händel und Leonardo da Vinci und musste nicht lange überlegen, als ihn sein Verleger George Weidenfeld um eine Biografie des Dichters bat. Schon 1932 hatte er die wichtigsten Werke in einer zweibändigen Dünndruckausgabe ediert.
Die Chance war da, endlich bei der Beschäftigung mit Goethe den freieren Ton zu wagen, den schon Hofmannsthal wünschte, die idealisierenden, mythisierenden Sätze zu meiden, das ehrfürchtige Geraune über einen Unnahbaren. Und Friedenthal, mit den Dichtungen und der Goethe-Philologie seit den Jugendtagen vertraut, schrieb ein Buch, wie es kein anderes gab, eine Biografie, die den bestaunten Halbgott auf die Erde holte, mitten in die Realität seiner Epoche. Denn ganz so traulich, zeigte Friedenthal, ging’s da ja nicht zu. Es war kein goldenes Zeitalter, in dem Goethe lebte, es gab Elend zur Genüge, Soldatenhandel, Krieg und Revolutionen, und noch im letzten Brief vom 17. März 1832 steht der Satz: »Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt …«
Über das »brutale Rokoko«, schrieb Friedenthal, fand er wenig in der Literatur. Die Literaturpäpste des Westens wetteiferten um die Interpretation des Werks. Er war der Erste, der sich nach langer Zeit wieder dem Leben Goethes widmete. Und er entledigte sich der Aufgabe mit Bravour, beschrieb die Leidenschaften und Kämpfe des Dichters, seine Stärken und Schwächen, die Misshelligkeiten und Niederlagen, den Liebenden, den Leidenden, den Mann mit seinen Konflikten, umgeben von Mittelmäßigen, Enttäuschten, Gebrochenen. Es wurde eine große, elegante Erzählung von suggestiver Kraft, seriös und spannend, Friedenthals Meisterstück.
Viele »Welt«-Leser jedoch schlugen Alarm. Für sie war diese Biografie, die nichts schmälerte, aber jeder Verklärung aus dem Weg ging, nicht mehr als ein böser, unverzeihlicher Denkmalsturz. Von »schädlichen, verantwortungslosen und zerstörenden Verzerrungen« war die Rede, von »Geschichtsfälschungen«. Jemand erklärte: »Der Stolz auf unsere großen Männer ist das einzige, was wir noch besitzen.« Einer empfahl, das »ehrabschneidende Publizistenelaborat« ins Feuer zu werfen. Moniert wurde sogar, dass Goethe bei Friederike Brion auf einem »verstimmten« Klavier gespielt haben soll. Und ein Bonner Professor schrieb dem Piper-Verlag auf einer Postkarte: »Wie tief sind Sie gesunken mit ihrem Viehjuden Dr. (?) Friedenthal. Pfui! - Wie gemein schreibt er über Goethes Todeskampf. Pfui! Pfui! Pfui!«
»Der große Mann bleibt ein Tabu und nationales Heiligtum«, konstatierte Walter Jens, als die Entrüstung ihren Höhepunkt erreicht hatte, in der »Welt« und betonte, Friedenthal zeige »verstehend, aber nicht beschönigend die Dinge, wie sie wirklich sind … und siehe da, statt zu verlieren, gewinnt der Betrachtete noch an Vielfalt und Plastizität: welch ein Werk und welch ein Leben bei so viel Dunkelheit, Versagen und Schwäche!« Er sprach von einer »befreienden Tat«, die Schluss mache mit »blinder Anbetung«. Nicht der Heroisierte, sondern der Zeitgenosse sei hier Gegenstand der Darstellung. Es war das wichtigste Plädoyer in der Debatte. Und am Ende auch das folgenreichste.
Mit der Buchausgabe im Herbst 1963 begann der Triumphzug der Biografie. Zwei Nachauflagen erschienen noch im selben Jahr, sieben weitere bis 1974, daneben zwischen 1968 und 1977 drei Taschenbucheditionen bei dtv, danach Ausgaben bei Ullstein und in verschiedenen Buchgemeinschaften. Friedenthal schrieb später noch eine Luther- und eine Marx-Biografie. Den sensationellen Erfolg seines »Goethe« konnte er nicht wiederholen. Das Buch, eine wunderbar lesbare Einführung in die Welt Goethes, entzückt seine Leser noch immer.
Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit, Piper Verlag, 672 Seiten, br., 15,99 Euro.
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