Von Maß und Regeln
Der »Fall Mollath« und die psychiatrischen Paragrafen: Wird in Deutschland zu viel »weggesperrt«?
Wenn ein Sexualverbrechen verübt wird, wenn sich Jugendliche brutal prügeln oder sich gar ein Anschlag ereignet, ist man schnell bei der Hand mit Reformvorschlägen. Meist wird dann verlangt, Gesetze zu verschärfen - will doch niemand als »zu lasch« dastehen: Wie schon Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte: »Wegsperren«, und zwar möglichst für immer! Ein aktuelles Arbeitspapier des Bundesjustizministeriums (BMJ) drückt es etwas vornehmer aus: Es herrsche eine »punitive Grundstimmung in der Kriminalpolitik«.
Nach dem »Fall Mollath« ergibt sich nun eine Debatte um den Paragrafen, der diese Causa ermöglicht hat. Das erwähnte Papier des BMJ nimmt ausdrücklich auf den Fall Bezug und formuliert »Reformüberlegungen zur Unterbringung nach Paragraf 63 StGB«, dem Paragrafen zum »Maßregelvollzug«.
Sehr dynamisch verläuft die Auseinandersetzung bisher allerdings nicht: Das Papier sei Verbänden und Behörden zur Stellungnahme zugeleitet worden, heißt es im Ministerium; obwohl das Thema seit Monaten auf der Agenda steht, hat sich etwa der Bundestags-Rechtsausschuss noch nicht damit befasst, wie dessen Mitglied Jens Petermann (LINKE) sagt.
Nach Paragraf 63 können Angeklagte nach der Feststellung von eingeschränkter Schuldfähigkeit zwangseingewiesen werden - was mitunter weit länger dauert als Gefängnis. Denn beim Maßregelvollzug geht es nicht um die Sühne einer Tat, sondern um »Besserung« und »Schutz der Allgemeinheit«, erklärt Garonne Bezjak von der Neuen Richtervereinigung (NRV). Obwohl die Verhältnismäßigkeit beachtet werden muss, ist letztlich nicht die »Anlasstat«, sondern die »Prognosetat« relevant - also das, was ein Gutachter einem Menschen zutraut.
Im Zweifelsfall internieren
Rein theoretisch, erklärt Bezjak, könne jemand, der »eine Tüte Gummibärchen geklaut« hat, für Jahre in einer Anstalt verschwinden - wenn ihm prognostiziert wird, er werde demnächst der Verkäuferin auflauern. Das ist sicherlich zugespitzt, aber nicht ganz aus der Luft gegriffen. Dass in der Praxis die Verhältnismäßigkeit eine herausgehobene Rolle spiele, lässt sich nämlich nicht behaupten: »Kaum jemand schert sich um den Grundsatz, dass die Dauer des Freiheitsentzuges im vernünftigen Verhältnis zur Schwere der begangenen Tat stehen muss«, sagte der prominente Münchner Psychiater Norbert Nedopil jüngst im »Spiegel«-Interview.
Laut dem Papier des Justizministeriums ist die Zahl der nach Paragraf 63 Untergebrachten »in den letzten Jahren stetig gestiegen«: Alleine in den alten Bundesländern von knapp 3000 im Jahr 1996 auf 6750 im Jahr 2012 - wobei die Zahl der neuen Anordnungen zuletzt sogar sank und die steigende Zahl der Untergebrachten darauf hinweist, dass, wer einmal drinsteckt, immer schwerer wieder herauskommt. Unverblümt nennt das Ministeriumspapier für die eklatante Zunahme der Gemaßregelten u.a. den Grund, es würden »Lücken in der medizinischen Versorgung psychisch Kranker (...) verstärkt mit dem Mittel der strafrechtlichen Unterbringung ausgeglichen« - Freiheitsberaubung aus Kostengründen?
Reformbedarf sieht das BMJ nun hinsichtlich der »Prognosetaten«: Demnach müssen die vorausgesagten Taten künftig »die Opfer seelisch oder körperlich erheblich« schädigen oder gefährden oder »schweren wirtschaftlichen Schaden« anrichten - »Straftaten gegen die öffentliche Ordnung« wie etwa Hausfriedensbruch sollen nicht mehr ausreichen. Der Anwendungsbereich des Paragrafen soll auf tatsächlich »gravierende Fälle« beschränkt werden.
Reformieren will das Ministerium zweitens den Modus der Überprüfung. An die Stelle der derzeit »ausnahmslos unbefristeten Unterbringung eines psychisch kranken Rechtsbrechers« soll eine »differenzierte (dreistufige) Regelung« treten. Ist jemand bereits acht Jahre untergebracht, soll ein prognostizierter »schwerer wirtschaftlicher Schaden« nicht mehr für eine weitere Internierung ausreichen, sondern nur noch schwere Straftaten gegen Personen.
Darüber hinaus will das BMJ den Vollzug der »Unterbringung« verändern: Die Untergebrachten sollen größere Chancen auf eine Überprüfung ihres Falles erhalten. - nach der Einlieferung erstmals nach vier, dann nach weiteren acht Monaten, anschließend immerhin einmal pro Jahr. Nach jeweils zwei Jahren soll demnach zudem ein mit der Sache bisher nicht befasster Gutachter hinzugezogen werden. Bei einer Unterbringung über sechs Jahre hinaus sollen es dann zwei Gutachter sein.
Den Katalog entrümpeln
Unter Juristen beginnt nun eine Diskussion über diese Vorschläge. Für den LINKE-Politiker Petermann, selbst Richter von Beruf, geht auch der neue Katalog von »Prognosetaten« noch zu weit. Ein derart gravierender Grundrechtseingriff sei nur dann zu rechtfertigen, wenn schwere Taten gegen Personen zu erwarten seien - die »wirtschaftlichen Schäden« müsse man streichen, fordert Petermann. Ähnlich sieht es Garonne Bezjak. Auch die NRV empfehle, die »wirtschaftlichen Schäden« aus dem Gesetz zu nehmen. Skeptisch ist sie allerdings, was etwa die Erstüberprüfung eines Internierten nach vier Monaten angeht: »Mit den derzeitigen Ressourcen ist dies kaum zu gewährleisten.«
Dass der Paragraf 63 gebraucht werde, stellen Bezjak und Petermann nicht infrage. Andere Juristen erheben allerdings schwere Vorwürfe gegen die damit verbundene Praxis. Die Anwältin Gabriele Steck-Bromme aus Frankfurt am Main klagte schon 2009 in einem Referat auf dem Strafverteidigertag, es gebe »keinen zweiten Bereich der Justiz«, in dem »dermaßen viel im Argen« liege. Hätten Verteidiger in einer »guten alten Zeit« noch selbst oft eine Begutachtung ihrer Mandanten veranlasst, da sie bei eingeschränkter Schuldfähigkeit auf Milde hofften, sei das dem verantwortlichen Verteidiger im Sinne der Mandanten heute nicht mehr zu empfehlen. »Sofort« sei nämlich »mit der gewaltigen Keule des Paragrafen 63« zu rechnen.
Johann Bader, Richter in Stuttgart und NRV-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg, sieht das ähnlich kritisch. Es gebe etliche der Mollath-Causa ähnelnde Fälle, sagt er gegenüber »nd«. Anfang Oktober wolle man in dieser Sache an die Öffentlichkeit gehen.
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