Herr Zimmermann und der sprechende Hund
Ein morgendlicher Blick auf Wahlplakate aus der Sicht einer Radfahrerin
»Mensch vor Bank. Und Du?«, radebrecht ein grünes Wahlplakat an einer von Läusen zerfressenen Linde vor meiner Haustür in der Prenzlauer Allee in Berlin. »Ich vor Arbeit«, antworte ich leise flüsternd vor mich hin und schwinge mich aufs Rad. Es ist nicht leicht, in diesen Wahlkampftagen unverletzt von der Wohnung in die Redaktion zu gelangen. Zu Schlaglöchern, Autorowdys und abenteuerlichen Verkehrsführungen, die den Radfahrer zwingen, sich zwischen abbiegenden Lastkraftwagen hindurchzuzwängen, gesellt sich auf meinem Weg in diesen Tagen die Herausforderung, geistiger Verletzung durch hohle Politphrasen und sinnentleertes Geschwurbel zu entkommen.
An der nächsten Linde hängt Martin Lindner von der FDP. »Mehr Mut. Mehr Markt. Mehr Freiheit. Nur mit uns«, behauptet er. Mehr Sonne könnte ich heute auch vertragen, überhaupt: Warum nicht insgesamt ein bisschen mehr Klima, liebe FDP?
Mit dem Mut haben es übrigens die meisten Parteien, wobei die Formulierungen in der Regel offen lassen, ob die Wähler mutig sein sollen oder die zu Wählenden sich selbst für mutig halten. Letzteres ist ja auch nicht auszuschließen. »Mut zur Wahrheit« plakatiert die Alternative für Deutschland. »Für Mut gegen Armut. Und Du?«, fragt Katrin Göring-Eckardt von der Laterne an der Kreuzung Prenzlauer/Danziger herunter.
Für eine Analyse dieses semantischen Kurzschlusses lässt mir die Rotphase an der Ampel leider zu wenig Zeit. Außerdem sehe ich schon von weitem, dass auf der anderen Seite bereits der nächste Grüne mit einer Frage auf mich wartet. »Wir bringen neue Energie«, sympathelt Jürgen Trittin von oben auf mich herab. »Und Du?« Ich weiß nicht recht, was ich da antworten soll. Vielen Dank, Jürgen. Nehme ich gern, denn die alte ist gerade alle. Und verbrauche die neue dann mit der extraenergieintensiven Eismaschine eines namhaften Herstellers. Oder wie war das gemeint?
»Bis hierhin und weiter Zimmermann«, mischt sich ein ansehnlicher junger Mann von der CDU mit nie gelesenem Spezialkauderwelsch in meine grüne Grübelei. Sein Konterfei, das mich an irgendeinen schönen Schauspieler erinnert, verfolgt mich schon seit Ecke Ahlbecker. Was um Himmels Willen will er? Mich auf seinem Rad mitnehmen? Geradeaus durchfahren bis zum Kanzleramt? Ist der Mann ein Verkehrsmittel?
Für sprachlich altmodische Menschen wie mich bestätigt sich der Verdacht, dass so mancher gedruckte oder gesprochene Satz an der einen oder anderen Stelle eine Präposition oder gar ein Verb mehr vertragen könnte. Versteht man einfach besser. Im Wahlkampfplakatduktus könnte das folgendermaßen heißen. »Ich nehme ein Wort mehr. Und Du?«
Man muss das mit den Sätzen ja nicht gleich so übertreiben wie die Piraten. Die scheinen allen Ernstes zu glauben, dass Menschen vor ihren Plakaten stehen bleiben, das Smartphone herauskramen und klitzeklein gedruckte Formulierungen wie »Transparente Strukturen sind die zentralen Voraussetzungen für eine echte politische Teilhabe. Wir Piraten setzen uns für mehr Transparenz und Öffentlichkeit in der Politik ein« abspeichern, um sie zu Hause noch einmal in Ruhe am Bildschirm zu studieren.
Mir hätte der obere Teil der Werbung vollkommen ausgereicht. In dem sagt ein Hund, dass er was gegen Filz hat. Weil jedes Kind versteht, dass ein Piratenhund sprechen kann, verwundert es nicht, dass er auch Fragen stellt: »UND IHR?«, bellt er mich kurz vor der Volkshochschule an. Ich fühle mich nicht angesprochen, ich bin heute allein unterwegs. Außerdem habe ich schon genug Fragen beantwortet und muss gleich links abbiegen. Auf dem Alexanderplatz sehe ich nach all den Liebichs, Mindrups und Zimmermännern, die sich auf der Prenzlauer Allee mitunter einen Baum teilen müssen, endlich mal wieder ein Frauenplakat. Tunia Erler von der DKP hat ihr Gesicht dem »Systemwechsel« verschrieben. Nicht mehr und nicht weniger.
Obwohl ich mich gerade daran gewöhnt hatte, brav auf die Politikerfragen zu antworten, will sie meine Meinung gar nicht wissen. Aber ich habe eine, ich bin sehr dafür. Systemwechsel erinnert mich an Reifenwechsel, Versicherungswechsel, Schulwechsel, Stromanbieterwechsel, Partnerwechsel. Alles Sachen, die man erfahrungsgemäß nicht umgehen kann. Das ganze Leben besteht aus Wechseln. Da hinkt die Politik, die den Wechselwähler grundsätzlich ein wenig schief anschaut und immerzu analysiert, noch ein bisschen hinterher.
Vor dem Kino International, wo mein nächster Straßenwechsel erfolgt, hat man Gregor Gysi an die alten Peitschenlampen gebunden. Sanft schmiegt sich der Linksparteipromi mit der Pappe um den Beton, weil er sonst runterrutschen würde. Die Plastikstreifen, mit denen er festgeheftet wurde, scheinen ihm direkt rechts und links aus den Ohren zu wachsen und versetzen dem gemütlichen Gesamteindruck einen diabolischen Anstrich. Gefällt mir.
Auf dem Heimweg werde ich mal ganz woanders langfahren. Das kann ja noch nicht alles gewesen sein, was diese Kandidaten mich schon immer mal fragen wollten.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.