Der alte Schlawiner lebt
Zur Debatte um das Ende des Kapitalismus und warum man alles selber machen muss. Eine Antwort auf Manfred Sohn
Die Welt stehe »vor dem Epochenbruch«, hat Anfang August der Linken-Politiker Manfred Sohn hier geschrieben und erläutert, warum die gegenwärtige Krise seiner Meinung nach keine »normale« ist und was das für die gesellschatfliche Linke heißt. Alban Werner hat darauf geantwortet - mit dem kritischen Hinweis, dass wir »noch nicht am Ende der kapitalistischen Fahnenstange« sind. Wir setzen die Diskussion an dieser Stelle fort.
»Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, is uns lang genug auf der Tasche gelegen« – so singt Peter Licht in dem wunderschönen »Lied vom Ende des Kapitalismus« und frohlockt im Refrain: »Vorbei - Jetzt isser endlich vorbei«. Die Realität allerdings sieht anders aus. Der Kapitalismus ist lebendig wie eh und je und daran wird sich voraussichtlich erst mal nicht sehr viel ändern. Während die bürgerlichen Medien derzeit das Ende der Krise des Kapitalismus ankündigen, debattiert man im Neuen Deutschland über das Ende des Kapitalismus. Auftakt gab ein Artikel von Manfred Sohn. Im Unterschied zu früheren Krisen, so seine These, würde die jetzige Krise das endgültige Aus der kapitalistischen Produktionsweise einläuten. Von einem Epochenbruch ist die Rede, davon, dass die inneren Schranken der Kapitalverwertung nun endgültig nicht mehr zu überwinden seien. In einer Replik auf Sohn argumentiert Alban Werner dagegen. Ein absehbares Ende des Kapitalismus sei nicht begründbar.
Sohns Argumentationsgang leidet in der Tat an einem Widerspruch: Auf der einen Seite sei objektiv eine Sackgasse kapitalistischer Entwicklung erreicht; gleichzeitig jedoch kämen »Epochenbrüche« nicht »von selbst«, seien »kein Naturgesetz«, sondern »Ergebnis menschlichen Handelns.« Dies erinnert an eine alte Debatte um die »Zusammenbruchstheorie«, aus den 1930ern des vorigen Jahrhunderts oder in der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg. Damals schon gingen einzelne Autoren davon aus, dass der Kapitalismus durch die in ihm wohnenden Widersprüche irgendwann zusammenbrechen würde. Die Idee, dass sich der Kapitalismus irgendwann »von selbst« erledigen würde, hat sich in immer neuen Facetten und mit verschiedenen Begründungsvarianten bis heute erhalten. Das ist verständlich, hat doch der Verweis auf objektive Schranken durchaus seinen Reiz: Er ist entlastend. Man muss nicht mehr darüber nachdenken, wie das Ende des Kapitalismus herbeigeführt werden könnte, welche Auseinandersetzungen, welche Politiken, welche Praktiken des Widerstands und Protest die dazu geeigneten wären. »Revolutionärer Attentismus« nannte dies der Historiker Dieter Groh.
Nun, tatsächlich zeigen Krisen eine Art Ende an – allerdings zunächst einmal nur ein Ende der je aktuellen Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals. Und: Kapitalismus ist kein Picknick, Krisen sind mit all ihren verheerenden Begleiterscheinungen untrennbarer Bestandteil. Neben den üblichen Konjunkturverläufen kommt es dabei auch immer wieder zu tiefer greifenden Krisen. Ob sich darin nun irgendwann eine objektive »innere« Schranke manifestiert, die dem Ganzen irgendwann endgültig den Garaus macht, ist eine Frage, die sich auch Marx immer wieder neu gestellt hat – und unterschiedlich beantwortete. Alban Werner hat in seiner Replik schon auf das Gesetz vom Marxschen tendenziellen Fall der Profitrate hingewiesen, auf welches sich Sohn positiv bezieht (»Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate stimmt«). Die These, dass die Profitrate zunehmend sinke und damit ein Ende der Akkumulation markiert, ist in der Literatur bis heute umstritten. Marx kann nicht zeigen, so die Kritik, welche der beiden gegenläufigen Tendenzen, die die Profitrate bestimmen, die Oberhand gewinnt: die Produktivkraftentwicklung, die den Ausbeutungsgrad erhöht, oder die steigende Wertzusammensetzung, d.h. das Verhältnis von eingesetzter Maschinerie zu Arbeitskräften, was den Verwertungsgrad des vorgeschossenen Kapitals senkt. (Siehe hierzu auch die letzte deutschsprachige Debatte im Marx-Engels Jahrbuch 2005 und 2006.)
Selbst Marx war alles andere als überzeugt. Die Grundrisse (1857/58), auf die sich Sohn vorwiegend bezieht und wo Marx noch ganz anders als später im Kapital (1867) argumentiert, wollte Marx schnellstmöglich abschließen. Er ging seinerzeit davon aus, dass mit dieser Krise eine Revolution bevorstünde. Einige Zeit später, Ende der 1870er Jahre, angesichts einer abermaligen tief greifenden Krise, verhielt es sich genau anders rum: Marx war vorsichtiger geworden. Seine ökonomiekritischen Studien wollte er erst dann weiterführen, wenn die Krise vorbei war. Sie war für ihn kein Katalysator für den politischen Umsturz mehr, kein Anzeichen eines nahestehen Endes des Kapitalismus, im Gegenteil: Er wollte an ihr studieren, wie sich der Kapitalismus durch eine Krise erneuert.
Sohn schreibt, dass sich die »Konturen einer vorrevolutionären Krise … jedem zum Sehen willigen Auge« zeigen. Allerdings kann das, was er als Anzeichen für das Erreichen der endgültigen, objektiven Schranke anführt, auch anders interpretiert werden, bzw. mit anderen willigen Augen betrachtet werden. Die Beweisführung für den bevorstehenden Epochenwechsel vollzieht Sohn in Anlehnung an Robert Kurz Krisentheorie entlang der These von der Abschmelzung der Arbeit als Substanz des Werts. Durch Rationalisierung würde die lebendige Arbeit überflüssig, der industrielle Sektor würde als Verwertungssphäre ausfallen. Die Reproduktionssphäre wiederum reiche nicht aus, um die Akkumulation des Kapitals dorthin zu verlagern. Rationalisierungen seien hier kaum möglich, lediglich die Verlängerung des Arbeitstages – mit Marx die Steigerung des absoluten Mehrwerts – die bekanntlich an natürliche Grenze stößt: der Tag hat nur 24 Stunden. »In diesen Bereichen ist kein Schwein fett zu bekommen«, schreibt Sohn in seinem sprachstarken Artikel. Auch andere Möglichkeiten, wie große Kriege oder eine starke Arbeiterbewegung, schließt Sohn als Wege, die kapitalistische Produktion in die Länge zu ziehen, aus: Ein großer Krieg stehe derzeit nicht an und die Arbeiterbewegung ist geschwächt. So wird die These, es gäbe keine Verwertungsfelder für das Kapital mehr, die für eine erfolgreiche Ausbeutung hinreichend genug lebendige Arbeitskraft zur Verfügung stellen könnten, zur zentralen Begründung für das Ende des Kapitalismus. Sohn macht das ausgerechnet an der Produktivkraftentwicklung mittels der elektronischen Datenverarbeitung und Kommunikationstechnologie fest. »Das lächerliche Handygebimmel hat weder akustisch noch ökonomisch das Niveau von Dampflokomotiven, Strommasten oder dem Model T«. Nun – das Handygebimmel mag lächerlich sein, aber abgesehen davon, dass auch schon der Verkauf tausender dieser Gebimmel-Töne ein Geschäftsfeld für sich geworden ist, hängt am Handy ein riesiger globaler Industriezweig, der insbesondere was die Rohstoffausbeutung (z.B. Koltan im Kongo) angeht, alles andere als lächerlich ist. Dies lässt sich allgemein für die komplett globalisierte Produktionskette in der Computerproduktion sagen.
Nur weil in den Industrieländern des globalen Westens eher die Ideen, wie welcher Computer, welches Programm, welches Handy aussehen soll, ausgeheckt und patentiert werden, heißt es nicht, dass nicht irgendwo anders die Rohstoffe dafür herkommen müssen, die Dinger produziert, also aus Einzelteilen zusammen montiert werden müssen. Hier unterläuft Sohn leider das gleiche, was schon dem Diskurs zur »immaterielle Ökonomie« oder »immaterieller Arbeit« (Negri/Hardt) in den 1990ern unterlaufen ist: Das Ausblenden der industriellen Produktion, die es durchaus auch im sogenannten High-Tech-Kapitalismus noch gibt, die aber weltweit in Niedriglohnstandorte ausgelagert wurde – und damit offensichtlich unsichtbar für viele Beobachter des Zeitgeschehens wurde. Und, wie gesagt: Auch die Sphäre der sogenannten »immateriellen Produktion« hat vom Handelsvolumen her in den letzten Jahren zugenommen. Geistig-kreative Inhalte werden in der digitalen Welt mittels der Sicherung des geistigen Eigentums zur Ware, das bezieht sich beileibe nicht nur auf bereits existierende analoge Schöpfungen die einfach digitalisiert werden - im Gegenteil, die digitale Warenwelt ist unerschöpflich: Apps für Smartphones, Videostreaming-Portale, Konsolenspiele bis hin zu Karaoke- und Fitnessprogramme auf digitalen Datenträgern wie DVD.
Abgesehen davon, dass dem Kapital die Verwertungsfelder nicht ausgehen, ist eine andere Frage in dieser Debatte noch grundsätzlicher und ebenso umstritten, wie der tendenzielle Fall der Profitrate: Braucht es denn für die endlos fortschreitende Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise wirklich nicht-kapitalisierte Felder, anders gefragt: ist der Kapitalismus wirklich am Ende, wenn es keine neuen Sphären für die Verwertung mehr zu erschließen gibt? Auch dies eine sehr alte Debatte. Sie entzündete sich an der These von Rosa Luxemburg, die da schrieb, dass der Kapitalismus ohne »ein Außen« nicht funktioniere, eine These, die schon in ihrer Zeit für viel Kritik gesorgt hat.
Offen bleibt bei aller Spekulation über die Zukunft des Kapitalismus eine zentrale Frage: Wozu ist angesichts eines kaum in Frage gestellten Kapitalismus eine Debatte wichtig, die um dessen Ende verhandelt? Ganz einfach: Die Krise des Kapitalismus ist – trotz oder gerade aufgrund der destruktiven Momente – eine Verjüngungskur für den Kapitalismus. Die bürgerliche Klasse hat längst begonnen, über die politischen Folgen dieser Krise zu diskutieren – das reicht von Wolfgang Streeck (Sozialdemokratie) bis zum FAZ-Feuilleton unter Frank Schirrmacher. Allerdings ist ihr Erkenntnisinteresse weniger von der Überwindung einer solch krisenhaften Gesellschaftsform geprägt. Vielmehr steht im Mittelpunkt ihres Interesses, wie mit den negativen Effekten, den »Übertreibungen« des Neoliberalismus umgegangen werden könnte. Es handelt sich um den Versuch, genau das voranzutreiben, was Sohn für unmöglich hält: eine Restauration des krisengebeutelten Kapitalismus und seiner Legitimationsressourcen. Die Linke freut sich daher zu Unrecht darüber, dass nun auch Konservative die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus öffentlich debattiert und eingesteht, dass man es in den letzten Jahrzehnten etwas übertrieben habe. Aber eines zeigt sich damit deutlich: Das Ende des Kapitalismus ist und bleibt eine politische Frage und als solches darf – nein, muss – sie auch gestellt werden. Es ist aber wohl keine Frage von gesetzmäßiger, objektiver Entwicklung. Irritierend ist – das sei am Rande noch angemerkt - wie unumwunden sich Sohn auf die Geschichte der politischen Formen der Linken in der Vergangenheit bezieht, beispielsweise auf die Jakobiner und die Bolschewiki - ganz so also hätten sie mehr Probleme gelöst als uns mit auf den Weg gegeben.
Wenn nun der Kapitalismus nicht an einer ökonomischen Gesetzmäßigkeit sein Ende findet, dann darin, dass es politisch gelingt, der Profitlogik und der herrschaftsförmigen Organisierung der Gesellschaft politisch ein Ende zu setzen. Statt also auf eine suizidale Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise zu hoffen, müsste gefragt werden, welcher Politik es gelingen kann, Staat und Kapital Organisationsleistung für die Gesellschaft abzuringen und welchen Anforderungen eine solche Politik gerecht werden müsste.
Sabine Nuss arbeitet bei der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin, ist Redakteurin bei PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft und ist Kolumnistin im »Krisenstab« bei »neues deutschland«. Ingo Stützle ist Redakteur bei »analyse&kritik«, von ihm erschien zuletzt »Austerität als politisches Projekt« bei Westfälisches Dampfboot.
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