Der Spinner

  • Matthias Wedel
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass ich als Spinner gelte, nur weil ich - wie Tante Erna zu jedem Familientreffen laut herausschreit - »mit die Hände nichts Gescheites anfangen« kann, daran habe ich mich gewöhnt. Der Spinner-Status hat Vorteile - man wird nicht zu aufwendigen Sägearbeiten herangezogen, und wenn was im Haushalt kaputt geht, darf man gleich was Neues kaufen und muss nicht erst Reparaturbemühungen simulieren. Freilich hat es nicht jeder gern, als Spinner herumzulaufen, in Sonderheit Frauen mögen nicht Spinnerin geheißen werden, sondern lieber Spatzi oder Engelchen. 1972 wollte die SED-Bezirksleitung Leipzig den ungefähr 1000 städtischen Spinnerinnen zum Frauentag etwas Gutes tun und hat sich für die Umbenamsung der Spinnerin in »Facharbeiterin für Wirk- und Spinntechnik« (oder so ähnlich) stark gemacht. Trotzdem wurde in der DDR weiter gesponnen.

Jemanden Spinner zu nennen, ist vielleicht nicht die feine Art, aber ihn Nazi zu nennen ist eindeutig schlimmer. Bisher konnte man füglich behaupten, dass zwischen einem Nazi und einem Spinner Welten liegen. Unser Herr Bundespräsident, dessen Fähigkeit, die Worte aufs Feinste zu wägen, zu wichten und rund zu lutschen, ihm annähernd Weltruhm eintrug, hat nun mit einem verbalen Befreiungsschlag alles Trennende zwischen Nazis und Spinnern niedergerissen. Er hat es für die Jungen und Mädel getan, die sich - sofern sie nicht selber Nazis sind - bisher rechtschaffen vor Nazis gegruselt, geekelt, wenn nicht gar gefürchtet haben. Aber die Jugend ist doch die schönste Zeit vor der Rente, die soll man sich doch nicht mit Gespenstern bevölkern! Deshalb hat der Bundespräsident frisch definiert, was Nazis »eigentlich« sind, nämlich Spinner.

Dass Nazis ab jetzt nur noch Spinner sind, macht tatsächlich manches leichter: Diesen und jenen Hitlergruß, der ihnen in der Öffentlichkeit entfährt, kann man nun als Tick einstufen, als Marotte von Leuten, die eben ihre Marotten haben. Wenn einer popelt, ist es ja auch nicht schön. Manche denken ja, dass die Nazis voller Hass und Scheiße stecken. Das ist nun nicht mehr wahr - sie stecken voller spinnerter Träumereien und süßer Fantasien, wie man sie aus Harry-Potter-Büchern kennt, und leben ein bisschen im Wolkenkuckucksheim. In dem haben Juden, Roma und der nichtarische Rest der Menschheit keinen Platz. Im Asylbewerberheim aber auch nicht. Darin sind sie eigen, die Spinner. Mit Morden lassen sie sich übrigens Zeit. Die gerichtsbekannte Bande »das Zwickauer Spinner-Trio« brauchte für zehn Morde zehn Jahre. Die Öffentlichkeit hat das nicht besonders beunruhigt, denn bei den Hingemordeten handelte es sich um Ausländer - nicht wie damals, als die Spinner der RAF mordeten - die hatten es auf Deutsche abgesehen.

Ob im Lichte der bundespräsidialen Wegweisung nun auch Geschichte neu geschrieben werden muss? Nein, denn Nazis und Spinner in eins zu setzen, hat eine lange Tradition: Das dritte Reich, die Naziherrschaft, Millionen von Toten waren eine direkte Folge davon, dass der Führer nicht alle Tassen im Schrank hatte. Soll man die milde Beurteilung Hitlers etwa jungen Nazis von heute, die noch nicht mal einen Weltkrieg angefangen haben, verweigern? Das wäre unsolidarisch!

Mit seiner Formel Nazi = Spinner hat J. Gauck viel zur Entkrampfung des deutschen Frontverlaufs beigetragen. Aber wenn nun auch Spinner = Nazi ist, kann ich mich in meiner Sippe nicht mehr blicken lassen. Gauck sich bei seinen Verehrern aber bald auch nicht mehr.

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