Das »Wunder« von Moskau
Wahl des Oberbürgermeisters ging knapper als erwartet aus
Die feierliche Amtseinführung des neuen, alten Moskauer Oberbürgermeisters Sergej Sobjanin wird wahrscheinlich schon kommende Woche stattfinden. Ein zweiter Wahlgang, der fällig geworden wäre, wenn keiner der Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme auf sich vereint hätte, erledigte sich am Montagvormittag, als das städtische Wahlkomitee das vorläufige Ergebnis verkündete. Das fiel mit 51,37 Prozent für Sobjanin, den Mann des Kremls, wesentlich knapper als erwartet aus. Bei früheren Umfragen war Sobjanin immerhin auf 60 Prozent und mehr gekommen. Der oppositionelle Radikalkritiker Alexej Nawalny dagegen, dem maximal 20 Prozent vorausgesagt worden waren, sammelte am Sonntag 27,24 Prozent der Stimmen ein. Von den anderen Kandidaten erzielte allenfalls der Kommunist Iwan Melnikow mit 10,69 Prozent noch ein achtbares Ergebnis. Die übrigen drei Bewerber endeten bei 2,8 bis 3,5 Prozent.
Beobachter erklären das »Wunder« des Nawalny-Erfolgs vor allem mit flächendeckendem Einsatz moderner Kommunikation. Wie schon bei den Massenprotesten nach den angeblich manipulierten Parlamentswahlen Ende 2011 habe Nawalny die politikverdrossene Spaßgeneration, die auch Wahlen notorisch schwänzt, durch virtuelle soziale Netzwerke angesprochen und mobilisiert, glaubt die Soziologin Olga Kryschtanowskaja, die seit Jahren das Verhalten der Eliten erforscht. Sobjanin dagegen sei auf die Füße gefallen, dass die Wahlbeteiligung überraschend niedrig ausfiel: 32,07 Prozent. Wer ohnehin vom Erfolg des Amtsinhabers überzeugt war, sei am Sonntag auf der Datscha geblieben.
Dabei war es das erste Mal seit fast zehn Jahren, dass die Moskauer ihr Stadtoberhaupt direkt wählen konnten. Wladimir Putin hatte sich 2004 vom Parlament Verfassungsänderungen genehmigen lassen, durch die der Präsident das Recht bekam, die Verwaltungschefs der Regionen und die ihnen im Rang gleichgestellten Oberbürgermeister von Großstädten faktisch zu ernennen. Erst Anfang 2012, kurz vor Ende seines vierjährigen Gastspiels im Präsidentenamt, hatte Dmitri Medwedjew den Regionen freigestellt, die Verwaltungschefs wieder direkt oder von den jeweiligen Parlamenten wählen zu lassen.
Sobjanin war im Frühjahr eigens zurückgetreten, um durch vorgezogene Neuwahlen nicht nur sich selbst demokratisch legitimieren zu lassen, sondern auch den Kreml vom Wahlfälschungsverdacht reinwaschen. Er sprach denn auch von den »offensten und fairsten Wahlen«, die Moskau bisher erlebt habe.
Ungeachtet dessen erkennt Nawalny das Ergebnis von Sonntag nicht an. Schon am vergangenen Mittwoch hatte man von der Opposition vernommen, sie werde gegen das Resultat, wie immer es ausfällt, protestieren. Bei Nachwahlbefragungen, die sein eigener Wahlkampfstab am Sonntag durchführte, soll Nawalny auf über 35, Sobjanin auf nur 46 Prozent gekommen sein. Die Chancen, eine Stichwahl durch Kundgebungen und Demonstrationen zu erzwingen, tendieren nach Auffassung von Beobachtern jedoch gegen null. Zumal auch Bürgerrechtler und auf Wahlbeobachtung spezialisierte nichtstaatliche Organisationen bei der Abstimmung keine nennenswerten Verstöße erkennen konnten. Sie behaupten, vor allem die von ihnen in Schnellkursen geschulten Beobachter hätten dafür gesorgt, dass die Wahlen landesweit mehr oder minder fair und transparent verlaufen seien.
Bei den Wahlen in anderen Städten und in mehreren Regionen konnte die Regierungspartei »Einiges Russland« fast überall ihre absolute Mehrheit verteidigen. Eine von wenigen Ausnahmen bildet Russlands viertgrößte Stadt Jekaterinburg (früher Swerdlowsk). Dort siegte bei der Bürgermeisterwahl Jewgeni Roisman, der für die »Bürgerplattform« des Politoligarchen Michail Prochorow antrat und mit 33,31 Prozent der Stimmen den Kandidaten der Regierungspartei Jakow Silin (29,71 Prozent) schlug. Anders als in Moskau genügte dort die einfache Stimmenmehrheit. Roisman, Unternehmer und Dichter, wurde als Gründer einer Stiftung »Stadt ohne Drogen« bekannt.
Ergebnisse wie in Jekaterinburg und in Moskau seien eine »Gelbe Karte für die Macht«, schrieb die Moskauer Wirtschaftszeitung »Wedomosti«. Für eine Trendwende, wie sie regierungskritische Beobachter heraufziehen sehen, ist es jedoch entschieden zu früh. Spannend wird indes, wie es mit Nawalny weitergeht, der im Juli wegen Wirtschaftsvergehen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, was seine Anhänger mit politischen Hintergründen erklären. Das Berufungsverfahren steht ihm noch bevor. Darüber, wie sich das Wahlergebnis auf die Strafe auswirken könnte, wird heftig spekuliert. Kommentar Seite 4
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