»Verzerrtes Bild«

Nach dem Fall Mollath sehen sich Psychiater zu Unrecht am Pranger - Betroffene protestieren

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 2 Min.
Jahrelang stand die forensische Psychiatrie unter dem Druck des Boulevard-Populismus: Der Vorwurf lautete, sie entlasse zu leichtfertig gefährliche Patienten. Nun meint die Psychiatrie-Gesellschaft, sich wieder mehr in der Gegenrichtung verteidigen zu müssen - ein Ortstermin.

Nina Hagen ist tatsächlich gekommen. Die Sängerin trägt Plateauschuhe und ist auch sonst bestens aufgelegt. Sie stellt sich zu dem Häuflein Protestierer vor der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung. »Ich bin doch auch schon so alt wie Mick Jagger«, entschuldigt sie sich kurz - und beginnt sofort mit dem Kundgebungsgeschäft: »Tschuh, tschuh, tschuh! Hier steht der Zug Richtung Freiheit«, deklamiert sie, »dieser Zug ist nicht für Menschenverkenner und Hexenverbrenner!«

Anlass der Kundgebung vom »Verband der Psychiatrie-Erfahrenen« ist eine Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGGPN). Die Gesellschaft hat Journalisten in eigener Sache eingeladen. Anlass ist der Fall des offenbar zu Unrecht in der Psychiatrie festgehaltenen Gustl Mollath. Und so geht es vor allem um Medienschelte.

Wie DGGPN-Präsident Wolfgang Maier sagt, diskriminieren Journalisten psychisch Kranke - und Psychiater. Der Göttinger Professor Jürgen Müller fügt hinzu, es gebe ein »verzerrtes Bild der Psychiatrie«. Nach einem Jahrzehnt des psychiatrischen Rechtspopulismus, in dem ständig gefragt wurde, wieso dieser oder jene Sextäter »frei herumlaufen« konnte, habe nach dem Fall Mollath eine Gegenbewegung eingesetzt.

Kann man »wissenschaftlich« beurteilen, ob jemand gerade im Besitz seines Willens ist? Das ist eine der Grundsatzfragen der Gruppe um Nina Hagen. Wer zur Veranstaltung will, wird deshalb mit »Herr Doktor Postel« angeredet - mit Bezug auf den legendären Hochstapler, der jahrelang als Top-Psychiater durchging, obwohl er nur den Jargon adaptierte.

Den DGGPN-Vertretern geht es hingegen darum, dieser Kritik die Spitze zu nehmen. Sie verweisen auf hohe Erfolgsquoten und sprechen von irrationalen Ängsten. Auch der Münchner Psychiater Norbert Nedopil, der 2012 noch im »SZ-Magazin« gesagt hatte, er selbst würde sich lieber nicht begutachten lassen wollen, reihte sich ein. Dabei hatte er noch kürzlich öffentlich harte Kritik am Gutachterwesen geübt. Vor der Tür berufen sich die Protestierer auf die 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Diese verbietet generell Freiheitsberaubung wegen gesundheitlicher Beeinträchtigung. Die Psychiater ficht das wenig an: Das gegenwärtige System sei damit »völlig konform, jedenfalls nach mehrheitlicher Rechtsmeinung«, so der ehemalige DGPPN-Präsident Henning Saß

Nur die Münsteraner Anwältin Ursula Knecht sorgte drinnen für Zwischentöne. Wenn sie als Verteidigerin ein psychiatrisches Gutachten brauche, sagte sie, finde sie regelmäßig keinen Gutachter. Immerhin dieses Problem hatte sich nach dem Ende der Veranstaltung erledigt: Ursula Knecht hat nun eine Menge prominenter Visitenkarten.

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