Alles auf Vollkorn
Gesundheitsfanatiker verteufeln »schlechte« Lebensmittel und werden dabei krank
Dinkelbrot, Vollkornnudeln, Salat, Bio-Äpfel: Klingt wunderbar gesund! Wer aber derart auf Vollwertkost fixiert ist, dass er niemals ein Stück Pizza oder ein paar Pommes anrühren würde, der übertreibt. »Wenn man bei der Ernährungsweise rigide ist und die Beschäftigung mit gesundem Essen zum Selbstläufer wird, wird ein Problem daraus«, sagt Dr. Reinhard Pietrowsky, Professor für Psychologie an der Universität Düsseldorf. Dann nämlich fängt das Verhalten an, zwanghaft zu werden: Experten sprechen von »Orthorexia nervosa«. Das Wort bedeutet so viel wie »krankhaftes Gesund-Essen«. Die Beschäftigung mit gesundem Essen wird zur »überwertigen Idee«, der man alles andere unterordnet.
Betroffene verbringen viel Zeit damit, Speisepläne auszuarbeiten und die »richtigen« Nahrungsmittel zu besorgen. Ob sie ihnen schmecken, spielt kaum eine Rolle. Sollten Orthorektiker doch einmal der Versuchung einer Currywurst erliegen, löst das Schuldgefühle aus. »Oft nehmen die Betroffenen auch keine Einladungen mehr an, weil sie dem misstrauen, was andere kochen und begeben sich immer mehr in die soziale Isolation«, sagt Pietrowsky. Setzt sich die vermeintliche Super-Diät nur noch aus wenigen Nahrungsmitteln zusammen, kann es zu Mangelernährung kommen. So berichtet eine Internet-Nutzerin im Forum von »Was wir essen«: »eine zeit lang war es echt schlimm... da hab ich fast nur obst gegessen...«
Bislang wird Orthorexie noch nicht als eigenständige Krankheit definiert. »Das ändert aber nichts daran, dass es dieses Phänomen tatsächlich gibt«, sagt Pietrowsky. In Deutschland dürften ein bis zwei Prozent der Bevölkerung betroffen sein. Die meisten Orthorektiker seien eher jung, Frauen und Männer gleichermaßen vertreten. Wer etwa als Vegetarier oder Veganer ohnehin eine spezielle Art hat, sich zu ernähren, ist anfälliger.
Offenbar neigen Menschen, die sich ohnehin stark mit Ernährung auseinandersetzen, eher zu Übertreibungen: Eine Studie der Universität Innsbruck unter 300 Diätassistentinnen ergab: Fast 13 Prozent waren gefährdet, Orthorexie zu entwickeln, oder litten bereits an der Störung.
Den Begriff prägte der amerikanische Alternativmediziner Steven Bratman, der die Essstörung 1997 erstmals ausführlich beschrieb. Das Wort kommt aus dem Griechischen, »Ortho« bedeutet richtig und »orexis« Appetit. Auf eine wirklich neue Krankheit war Bratman aber nicht gestoßen, denn: »Das Phänomen hat es schon immer gegeben«, sagt Dr. Susanne Dornhofer, Leiterin der Indikationsgruppe Essstörungen an der Schön Klinik Starnberger See. Die Zahl der Betroffenen nehme aber stark zu.
Oft beginnt eine Orthorexie, wenn Menschen mit einer bestimmten Ernährungsweise gute Erfahrungen machen: Sie haben dadurch zum Beispiel abgenommen oder fühlen sich fitter. Vor diesem Hintergrund kann eine Diät zu einer Art Religion werden, zu der man auch die Umwelt bekehren will: »Das Sendungsbewusstsein der Betroffenen ist sehr groß«, sagt Dornhofer. Typisch für Orthorektiker ist auch, dass sie stark zwischen »guten« und »schlechten« Lebensmitteln unterscheiden. So erklärt Dr. Lisa Pecho, fachärztliche Expertin für Essstörungen in München: »Die Betroffenen definieren gesundes Essen oft als Abwesenheit von Fett und Kohlenhydraten. Dabei braucht unser Körper auch diese Nährstoffe.« Pecho findet es daher falsch, bestimmte Lebensmittel zu verteufeln. Besser sei es, Kindern und Erwachsenen ausgewogene Ernährung nahe zu bringen.
Meist stecken hinter krankhafter Orthorexie Ängste, Unsicherheiten, aber auch Wut. Dazu passt Dornhofers Beobachtung, dass Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur - das sind eher ängstliche und perfektionistische Zeitgenossen - besonders anfällig für die Störung sind. Verschlimmert sich ihre Situation, etwa durch Probleme in der Familie, kann ihr Essverhalten entgleisen: »Es ist beflügelnd für sie, dass sie immerhin diesen Bereich kontrollieren können, wenn sie sich in anderen Bereichen hilflos fühlen«, sagt Dornhofer.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.