Mediale Arroganz
Wahlkampfnachlese
Wahlkämpfe sind ein wiederkehrender Zeitraffer von Worthülsen und gestanzten Reden, von Selbstlob und gegenseitiger Beschuldigung, von phrasenlauter Kommunikation am Rande der politischen Armutsgrenze. Ausnahmen, bei denen das Argument im Mittelpunkt steht und sich mutig mit dem Gegenargument misst, sind rar. Es ist nicht neu, dass dies beklagt wird; und die es beklagen, sind vor allem Medienleute. Was sie zumeist unerwähnt lassen: Ihr eigener Anteil am Schweinsgalopp ermüdender Scheindebatten und am Verlust des rationalen Arguments ist gewaltig.
Ob Steinbrücks »Stinkefinger«, die presserechtliche Verantwortung von Jürgen Trittin für die Drucklegung eines vor dreißig Jahren von einer Mitgliederversammlung beschlossenen und in keiner Weise mehr relevanten Kommunalwahlprogramms, oder die fortgesetzt beleglose Behauptung, die Linkspartei stehe wegen ihrer »unerfüllbaren Forderungen« jenseits des politischen Diskurses - die »Aufreger« wurden mit großer Hartnäckigkeit medial inszeniert. Um hinterher verantwortungsfrei festzustellen, dass sie es waren, die die jeweiligen Parteien Stimmen gekostet hätten. Politischer Journalismus hierzulande erschöpft sich namentlich bei Wahlkämpfen weitgehend darin, die Politiker nicht nach ihren Vorschlägen und Vorhaben kritisch zu befragen, sondern sie in Engen zu treiben, aus denen - Bitte, Sie haben eine Minute Zeit! - niemand entrinnen kann. Eigentlich gibt es wenig Grund, die politische Klasse als solche in Schutz zu nehmen, doch angesichts der mit vorgetäuschter Arglosigkeit gewappneten Arroganz in der eigenen Zunft ist es selbst in manchen Fällen gegen Null tendierender politischer Sympathie vonnöten. Diese Arroganz hat ja mit bissigem Journalismus nichts zu tun.
»Aber wenn Sie der FDP ein Prozent gegeben hätten«, insistierte Günther Jauch am Wahlabend gegenüber dem CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, »dann hätten Sie jetzt keine Probleme mit Schwarz-Gelb«. Wer solche Schacherbilder einer freien Wahl im Kopf hat, den sollte man von seiner Moderatorentätigkeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen entlasten. Warum werden immer nur Rücktritte von Politikern gefordert, während manche Medienleute sich weit größere Dreistheiten erlauben? Wie selbstgefällig dürfen sich Chefredakteure von ARD und ZDF benehmen, die am Wahlabend noch vor Auszählung aller Stimmen mit sturer Wiederholung sofortige, von keinem Nachdenken fundierte Konsequenzen und Koalitionsaussagen »ermitteln« wollen? Warum nicht die Gegenfrage: Ja, Herr Baumann und Herr Frey, wie lange bleiben Sie denn noch in Ihren Ämtern, die Prognosen Ihrer Anstalten liegen doch auch in der Tonne - oder muss das wohl erst in Ihren Gremien beraten werden?
Versucht wird, Politiker auf eilige Aussagen festzunageln, die hinterher als Wortbruch verhaftet werden können. Es ist aber ein Versuch, politisches Handeln und gesellschaftliche Fantasie medial zu enteignen. Die Politiker ihrerseits trauen sich keine Kritik dieses Zustands, weil sie kaum etwas mehr fürchten als den Vorwurf der Medienschelte. Ach, würden sie den doch nicht so scheuen.
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