Ein anderer Zeitgeist
Im Zentrum von Moskau bietet das Café »Ziferblat« Kultur ohne Kommerz
Stehlampen verbreiten gedämpftes Licht. Vor weißen Wänden steht eine antiquarische Kommode voller alter Wecker, die nicht mehr funktionieren und hohe Regale mit Büchern. An quer durch den Raum gespannten Leinen hängen Zeichnungen. Auf Sofas lesen 25-Jährige in ihren Laptops oder sie chatten. Andere sitzen an einem der kleinen Tische und spielen Schach oder unterhalten sich. Das Ziferblat ist eine Mischung aus gemütlicher Altbauwohnung, Künstleratelier und Bibliothek.
Doch der Clou ist, dass man nicht für den Kaffee zahlt, sondern für die Zeit, die man in dem Café verbringt. Das Geschäftsmodell kam bei den Moskauer Jugendlichen, die wenig Geld haben und es leid sind, alleine vor dem Computer zu sitzen, gut an. Im Herbst 2011 wurde das erste Ziferblat eröffnet. Inzwischen gibt es Cafés mit diesem Namen achtmal in Russland und einmal in der Ukraine.
Eine Minute Aufenthalt kostet zwei Rubel. Das macht bei zwei Stunden 5,50 Euro. Um zu zeigen, dass der Tisch besetzt ist, stellt man einen der alten Wecker ohne Zeiger auf seinen Tisch. Die Ankunftszeit wird an der Theke notiert. Erst beim Verlassen zahlt man. Gebäck und heiße Getränke gibt es an der Theke. Man kann sich auch selbst etwas zu Essen mitbringen. Allerdings gibt es ein paar Einschränkungen: Alkohol wird nicht verkauft und zum Rauchen muss man auf die Straße. Wer auf den Sofas sehr heftig knutscht, der erntet einen strengen Blick der jungen Leute hinter der Theke. Die arbeiten für Lohn, aber zum Teil auch als Freiwillige, weil das Café zu ihrem Zuhause geworden ist.
»Wir sehen es gerne, wenn die Besucher sich irgendwie beteiligen. Das wird auch honoriert«, sagt Dascha Winogradowa. Die 27-jährige Linguistin leitet das Café an der Pokrowka seit einem Jahr. »Die Gäste können Zeit kaufen, indem sie Blumen mitbringen, eine halbe Stunde abwaschen, für die Gäste etwas zu Essen mitbringen oder Klavier spielen«.
Ein Angebot zum Mitmachen
Die Idee des Ziferblat hat in Moskau inzwischen viele Nachahmer gefunden, die unter den Namen Babotschki oder Local Time um Kunden werben und ebenfalls Erfolg haben. Die Konkurrenten seien mehr am Geschäftlichen interessiert, meint Dascha in nüchternem Ton. Doch dann hellt sich ihr Gesicht wieder auf. »Wir bieten den Leuten nicht nur preisgünstigen Kaffee. Wir bieten ihnen auch Kommunikation und Möglichkeiten zum Mitmachen.« Tatsächlich wird im Zeitcafé an der Pokrowka Einiges geboten. Sonntags um elf treffen sich Jazz-Hobbymusiker, um gemeinsam Stücke einzuüben. Es gibt auch Gitarrenkurse, bei denen sich die Leute gegenseitig etwas beibringen. Und abends werden manchmal Filme vorgeführt.
Ziferblat ist eine eingetragene Marke und arbeitet nach dem Franchise-Prinzip. Wer das Geschäftsmodell übernimmt, muss Mitgliedsbeiträge bezahlen. »Wer unsere Prinzipien verletzt, verliert das Recht, unseren Namen zu führen«, sagt Iwan Mitin, der 28 Jahre alte Gründer des Ziferblat. Solch einen Konflikt gäbe es jetzt mit dem Tochterunternehmen in Odessa. Er hoffe aber, den Konflikt außergerichtlich zu lösen.
Damit jedes Ziferblat sein eigenes Gesicht hat, arbeitet Mitin jetzt an einem Konzept, das sowohl den Inhabern als auch den Besuchern die Möglichkeit gibt, das Café mitzugestalten. So sollen die Besucher per Abstimmungen über die Einrichtung oder auch eine neue Kaffeemaschine mitbestimmen können.
Weil immer neue Ziferblat-Cafés gegründet wurden, beklagte Mitin in einem Interview vor einem Jahr den Personalmangel und die Gefahr, ins reine Business abzurutschen. Nun hat er das Tempo etwas gedrosselt, will sein Geschäftsmodell aber trotzdem auch in anderen Ländern umsetzen. Als wichtigster Investor steht ihm der russische Geschäftsmann Wladimir Kultschitzki zur Seite. Doch Mitin will auch vor Ort Investoren und Interessierte gewinnen. Die Neugründungen sollen »nicht wie bei Starbucks« alle gleich aussehen, sondern »zu der Kultur der Region passen«.
Zurzeit bereitet der Ziferblat-Gründer die Eröffnung eines Kaffees im Londoner Studenten-Stadtteil Shoreditch vor. Es wäre die erste Gründung in Westeuropa. Danach möchte Mitin nach Berlin. Dort soll ein Deutscher Franchisenehmer werden, weil der die Bedingungen besser kennt.
Lesungen und Diskussionen
Dascha Winogradowa kennt fast alle Gäste persönlich und vermittelt auch schon mal Kontakte. So hat sie bei der Gründung eines dreiköpfigen Kafka-Lesekreises geholfen. Jede Woche kommen der 26-jährige Wasja, eine 50-jährige Psychoanalytikerin mit einer weiteren Person zusammen, um die Erzählung »Das Schloss« zu lesen und im Anschluss darüber zu diskutieren. Kafka sei in Moskau wegen der vielen Gerichtsprozesse gegen Oppositionelle zurzeit sehr angesagt, meint Wasja, der Mathematiker ist, derzeit aber als Korrektor bei einer Zeitung arbeitet.
Im Nebenraum sitzen an einem langen Tisch lauter junge Touristen, Amerikaner, ein Niederländer und Jan, ein BWL-Student aus Köln. Der 20-Jährige ist auf der Durchreise und wohnt im nahe gelegenen Hostel Chillax in einem 14-Bett-Zimmer für zwölf Euro die Nacht. Im Ziferblat braucht Nils gar nichts zu zahlen, denn er ist Gast der Veranstaltung Babylon, einem Treffen von jungen Russen mit ausländischen Rucksacktouristen. Bei dem Treffen geht es nicht nur um Unterhaltung in verschiedenen Sprachen, sondern auch um Couch-Surfing, das heißt, man guckt, ob man nette Leute aus anderen Städten findet, bei denen man gerne mal für umsonst übernachten würde.
Bevor Iwan Mitin, der Pionier des Zeitcafés seine geniale Geschäftsidee verwirklichte, hat er schon einiges anderes ausprobiert, um Kultur unter die Leute zu bringen. Als er bei einer NGO arbeitete und Strafgefangene betreute, schrieb er eine Erzählung über einen jungen Häftling, die im Moskauer Literaturwettbewerb »Debüt« nominiert wurde. Zudem brachte er ein Theaterstück auf die Bühne und malte Bilder. 2010 mietete er im Zentrum von Moskau eine Wohnung - »Das Haus auf dem Baum« -, wo Kunstaktionen geplant wurden. Eine dieser Aktionen war die Verteilung von in Plastik eingeschweißten Gedichten von Brodski, Puschkin, Majakowski und anderen Poeten. Die Gedichte wurden in die Reliefs von Denkmälern und an Regenrohre geklemmt oder in Supermarktregale gesteckt. »Unser Ziel war es, den Leuten zu zeigen, dass es diese Dichter gibt. Denn viele Leute lesen heute nur noch leichte Literatur, die von Sklaven-Schriftstellern in einem Monat geschrieben werden.«
Freie Kommunikation statt Konkurrenz
Weil das Einsammeln des Geldes für Miete - immerhin 1300 Euro - nicht immer klappte, kam Mitin auf die Idee mit dem Zeitcafé. Im Ziferblat soll ein anderer Geist herrschen als in den üblichen Cafés und Bars. Es sei der Versuc,h »freie Räume« zu schaffen, »wo man nicht guckt, wer einen teuren und wer einen billigen Cocktail trinkt«. Die Leute hinter dem Tresen haben keinen besonderen Status, sondern sind den Gästen gleichgestellt. Statt Konkurrenz und dem Vergleichen, wer mehr konsumiert, soll »echte Kommunikation« zwischen den Besuchern möglich werden.
»Natürlich wollen wir mit dem Ziferblat auch Gewinn machen«, sagt Mitin. Aber im Vordergrund stehe das Ziel, die Kommunikation der Menschen zu verbessern. In die acht russischen Ziferblat-Cafés kämen im Monat insgesamt 20 000 Besucher. Sie erleben Orte, an denen es »keine Heuchelei und keine überhöhten Preise« gibt. Das sei schon ein kleiner Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft, meint der Café-Pionier.
Der Ziferblat-Gründer ist nicht nur kulturell aktiv, sondern auch politisch. 2011 und 2012 nahm Mitin an den Großkundgebungen für ehrliche Wahlen in Moskau teil. Aber eine Revolution will er nicht. Parteifahnen, Parolen und neuen Führern steht er skeptisch gegenüber. »Das Problem ist nicht Putin, sondern das Volk. Das Volk hat seine Regierung verdient. Deswegen will ich das Volk ändern, damit es auf diesem Weg eine andere Regierung erhält, und nicht versuchen, Putin zu stürzen.«
Leute, die Propaganda für ihre Partei machen wollten, werde das Ziferblat keinen Raum bieten. Für konkrete Projekte gibt es aber schon Platz. So wurde in dem Zeitcafé ein Film über den inhaftierten ehemaligen Milliardär und Yukos-Chef Michail Chodorkowski gezeigt. Außerdem gibt es Veranstaltungen von Initiativen, welche sich für die Verbesserung der Lebensqualität in Moskau, die Erhaltung von Parks und grünen Höfen einsetzen. Und natürlich wird an den Tischen des Ziferblat auch über die Ziele der Protestbewegung und den Bürgermeisterkandidaten Aleksej Nawalny debattiert. Aber das Café soll für alle offen sein, »für Anhänger von Nawalny ebenso wie für Anhänger der Kreml-Partei ›Einiges Russland‹«, sagt Dascha Winogradowa, als sie nach einem langen Tag im Café - immer noch erstaunlich frisch - die Stühle hochstellt.
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